Quicksilver. Historischer Roman.
Neal Stephenson, Goldmann, August 2004
Aufklärung und Barock"Seid Ihr aus Europa gekommen?"
Er hat gespürt, dass jemand ihm folgte, jedoch, wenn er sich umschaute, nie etwas gesehen. Jetzt weiß er warum: Sein Beschatter ist ein Knabe, der sich wie ein Tropfen Quecksilber bewegt, den man niemals zu fassen bekommt. Zehn Jahre alt, schätzt Enoch. Dann fällt dem Knaben ein zu lächeln, und seine Lippen teilen sich. Sein Zahnfleisch trägt die Stümpfe bleibender Zähne, die sich in rosafarbene Lücken schieben, und Milchzähne, die wie Tavernenschilder an Hautscharnieren baumeln. Er dürfte eher um die acht sein. Doch dank Mais und Dorsch ist er groß für sein Alter - jedenfalls nach Londoner Maßstäben. Und bis auf seine Umgangsformen ist er in jeder Hinsicht frühreif.
Enoch könnte antworten: Ja, ich komme aus Europa, wo ein Junge einen alten Mann, wenn überhaupt, mit Sir anredet. Stattdessen bleibt er an der eigenartigen Nomenklatur hängen. "Europa", wiederholt er, "nennt ihr es hier so? Dort sagen die meisten Leute Christenheit."
"Aber wir haben hier doch auch Christen."
"Du meinst also, das hier sei die Christenheit", sagt Enoch, "aber wie du siehst, bin ich von woandersher gekommen. Vielleicht ist Europa tatsächlich der bessere Ausdruck, wenn ich es mir recht überlege. Hmm."
"Wie nennen es denn andere Leute?"
"Erscheine ich dir etwa wie ein Schulmeister?"
"Nein, aber Ihr sprecht wie einer."Ein Bote kommt 1713 nach Massachusetts, um den alten Dr. Daniel Waterhouse zurück nach England zu locken. Er kommt im Auftrag der Royal Society of London, der Vereinigung der Naturphilosophen (heute würde man Naturwissenschaftler sagen). Denn der Zwist zwischen dem genialen Isaac Newton und dem ebenso begabten Dr. Leibnitz soll endlich beigelegt werden. Dazu wäre Daniel Waterhouse der richtige Mann. Er hat mit Newton zusammen in Cambridge studiert, er hat dessen Vertrauen und kennt auch Leibnitz. Obendrein hat er die Entwicklung der Royal Society aus einem kleinen Zirkel weniger Männer miterlebt. Wenn er den Zwist nicht beenden kann, kann es keiner.
Und damit wendet das Buch sich dem Jahr 1655 zu und entführt den Leser nach Cambridge, wo Daniel und Isaac als arme bürgerliche Studenten unter lauter Adligen leben und studieren müssen. Daniel ist der Sohn eines puritanischen Predigers, ein guter Beobachter, aber niemand, der selbst die Initiative ergreift. Isaac ist da ganz anders. Er will alles wissen, von der Theologie springt er zur Mathematik und von da zur Alchemie.
Damit ist auch der Rahmen des Buches abgesteckt. Es geht um die aufkommende Mathematik und Naturwissenschaft am Ende des siebzehnten Jahrhunderts und wir Leser treffen sie alle, Sir Isaac Newton, dessen Principia zwei Jahrhunderte lang das Weltbild prägen sollte, den holländischen Uhrmacher und Astronomen Christian Huygens, Christopher Wren, Robert Hooke und all die anderen, die die Welt mit neuen Theorien auf den Kopf stellen und die genialsten wie albernsten Experimente anstellen.
Stephenson gelingt es, dem Leser daran teilhaben zu lassen, wir erfahren, wie schwierig sich die Experimente ohne brauchbare Messgeräte gestalten, wie wichtig es wird, als Huygens eine Pendeluhr erfindet, die wenigstens eine halbwegs genaue, zuverlässige Zeitmessung in Sekunden gestattet. Überhaupt erfahren wir, wie viel wir auch in ganz banalem Alltag dieser Zeit verdanken - die Erfindung der Wasserwaage wird im Buch ebenfalls gestreift. Alchemie und Naturwissenschaften hängen noch eng zusammen, obwohl sie heute so gerne als Gegensätze gesehen werden.
Eine zweite Ebene des Buches spielt auf den gerade eröffneten Börsen von Amsterdam und London, die den Beginn der Finanzwelt, wie wir sie heute kennen, bilden, mit ersten Spekulationen, Kursmanipulationen und manchem mehr. Auf diesem Parkett bewegt sich die zweite Heldin des Buches, die ehemalige Haremssklavin Eliza, überraschend geschickt, was ihr am Ende den Titel einer Gräfin einträgt. Und da sie mit Leibnitz befreundet ist und eifrig mit ihm korrespondiert, bleibt es nicht aus, dass das Buch auch manche Teile über neue Geheimschriften und die Möglichkeiten der Spionage enthalten.
Wir erleben auch die Politik dieser Zeit, die Kriege Louis XIV, die Belagerung Wiens, die Restauration, als Charles II. nach Cromwells Tod wieder die Macht in England ergreift, gefolgt von englischen Adligen, die in Frankreich aufgewachsen sind und einem Bruder, der katholisch (also papistisch) ist und bei den Engländern die schlimmsten Befürchtungen auslöst. Nur langsam gewinnt die Auffassung, dass jeder nach seinem Glauben leben darf, an Boden, noch neigt kaum eine der verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen zur Toleranz.
Leider leidet der Autor Neil Stephenson leidet wie so manch anderer unter chronischer Diarhoe verbalis (vulgo: Wortdurchfall), "Quicksilver" ist nur einer von drei Bänden und selbst der umfasst bereits über tausend Seiten. Zu viele, um das Buch einfach im Bett oder der Badewanne zu lesen, eher scheint es geeignet, jemanden damit zu erschlagen.
Immer wieder beschreibt der Autor uns Details seiner sorgfältig recherchierten Geschichte, verliert sich in zahllosen Einzelheiten, manchmal werden auch geduldige Naturen den einen oder anderen Absatz überspringen. Vor allem am Anfang tut sich der Leser hart, in die Geschichte hinein zu finden, die eigentlich keine Geschichte ist - jedenfalls keine mit Anfang, Plot, Hauptperson und Ende-, sondern eine Vielzahl von Schicksalen auf dem Hintergrund des barocken Europas, eine Vielzahl von Ebenen, die der Autor häufig und gerne wechselt. Dafür erhält der Leser aber auch eine erheblich realistischere Schilderung des Barocks und einen Roman, der sich nicht an die 08/15 Regeln üblicher historischer Romane hält.
Doch das ist auch die Krux des Buches: Es liest sich alles andere als leicht, ist kein Pageturner, sondern ein Text, den sich der Leser langsam erlesen muss. Allerdings lohnt sich dieser Aufwand auch für den, der sich für Geschichte und die Entstehung der Naturwissenschaften interessiert. Man hat das Gefühl, dass man in eine andere Zeit getaucht wird, die Probleme und Verhältnisse dieser Epoche miterlebt und versteht und die Historie nicht nur ein farbloser Wandteppich für die üblichen Liebes- und Abenteuergeschichte herhalten muss.
Über den Autor: Neil Stephenson wurde 1959 in Maryland, USA, geboren, studierte an der Universität von Boston Physik und Geografie und begann seine Schriftstellerkarriere 1984 mit "The Big U". Für "Diamond Age" erhielt er den Hugo Award, bei der Ars Electronica 2000 die Goldene Nica.
Quicksilver, Neal Stephenson, Manhattan Verlag (Random House), August 2004
Aus dem Amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller
ISBN 3-442545684, gebunden, 1152 Seiten, Euro 29
Das Buch bei Amazon
Weitere Rezensionen von Hans Peter Röntgen