Nachtzug nach Lissabon. Roman.
Pascal Mercier, btb, April 2006


" Gregorius ging sie alle durch. Zuerst kam es ihm vor, als zöge er nur eine Zwischenbilanz seiner Gefühle für sie. In der Mitte der Bankreihen dann merkte er, dass er immer häufiger dachte: Wieviel Leben sie noch vor sich haben; wie offen ihre Zukunft noch ist; was noch alles mit ihnen passieren kann; was sie noch alles erleben können!
Portugues. Er hörte die Melodie und sah das Gesicht der Frau, wie es mit geschlossenen Augen hinter dem frottierenden Handtuch aufgetaucht war, weiß wie Alabaster. Ein letztes Mal ließ er den Blick über die Köpfe der Schüler hinweggleiten. Dann erhob er sich langsam, ging zur Türe, wo er den feuchten Mantel vom Haken nahm, und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Zimmer."

Der Lateinlehrer Gregorius trifft eines Morgens eine Frau auf einer Brücke. Er vermutet, dass sie sich umbringen will. Und von da ab treibt ihn die Sorge um sein Leben um: Soll das schon alles gewesen sein? Alte Schriften, Schule und Routine, nach ihm kann man die Uhr stellen?

Er verlässt die Schule mitten im Unterricht und macht sich auf den Weg nach Lissabon, um der Spur eines Buches zu folgen, das er zufällig entdeckt.

Mercier hat einen wundervollen Roman geschrieben, stilistisch brilliant, der sich bald zum Pageturner entwickelt und den Leser in Bann zieht. Kein Wunder, das es ein Bestseller wurde.

Also fünf Sterne und allen empfehlen, die Literatur und Bücher lieben?

Nicht ganz. Denn er hat auch eine wundervolle Selbsttäuschung geschrieben, der Rezensenten und Leser - und ich auch! - reihenweise erlegen sind. Da ändert jemand sein ganzes Leben, fängt völlig neu an, verlässt die eingefahrenen Gleise, so stellt sich das dar.

Doch so ist es nicht. Gregorius befasst sich weiterhin mit alten Texten verstorbener Schriftsteller. Dass dieser, wegen dem er nach Lissabon fährt, "nur" 30-50 Jahre alt ist und nicht zweitausend, wie die, die mit denen er sich bisher befasst hat, ändert nichts daran, wie Gregorius lebt und was er schätzt. Wie jener Familienvater, von dem Dashiell Hammett berichtete, der, plötzlich aus der Bahn geworfen, Frau, zwei Kinder und Reihenhaus verlässt, um später, nach dem Schock, in einer anderen Stadt sich eine neue Frau, zwei Kinder und Reihenhaus zuzulegen, wie jener Familienvater nimmt auch Gregorius sich selbst auf diese Reise nach Lissabon mit. Und es ist immer noch der gleiche Fan alter Sprachen und Texte.

So kann man der Faszination dieses Textes erliegen, denn wer träumt nicht wenigstens gelegentlich davon, einfach alles hinzuschmeißen und ein gänzlich anderes Leben an einem völlig anderen Ort zu beginnen?

Noch etwas anderes fällt an dem Buch auf. Portugal unter Salazar, unter der faschistischen Diktatur spielt eine Rolle, denn der Autor des geheimnisvollen Buches, mit dem Gregorius nach Lissabon fährt, lebte zu dessen Regierungszeit. Und gehörte zu einer Widerstandsgruppe, war Arzt und rettete dem brutalsten Polizisten, dem Schlächter von Lissabon, das Leben. Von da ab verachten ihn alle Patienten.

Verachten ihn alle? Moment mal, hatte Salazar so gar keine Anhänger außer dem Schlächter von Lissabon? Gerade das gehobene Bürgertum, Klerus und Adel waren zu großen Teilen Stützen des Systems. Im "Nachtzug nach Lissabon" findet man seltsamerweise nur Gegner dort. Das ganze erinnert ein wenig an die Geschichten aus dem dritten Reich, in denen es kaum Nazis gibt, aber massenhaft Gegner und die (wenigen) Nazis scheinen Alien zu sein, von einem anderen Stern eingeflogen. Menschen sind anständig und keine Faschisten.

Und diese Widerstandsgruppe, deren Geschichte Gregorius langsam Stück für Stück entblättert. Seltsam, er erfährt alles über sie, ihre Teilnehmer, die Verfolgung durch die Geheimpolizei. Nur eines erfährt er nicht, wohl weil es ihn nicht interessiert: Was haben sie getan? Flugblätter verteilt? Eisenbahngleise gesprengt? Diskutiert, immer wieder diskutiert, aber weiter war nichts? Und was war ihr Antrieb? Waren sie Christen, Kommunisten, Demokraten? Der Leser darf raten, erfahren tut er es nicht.

Merciers Portugiesen erscheinen so real, wie Karl Mays Indianer. Edel, heroisch und bewundernswerte Philosophen.

In "Planet Germany" schildert der Amerikaner und Wahl-Deutsche Eric T. Hansen, was für viele Deutsche die ideale Beschäftigung, das vollendete Leben wäre. Es hat fatale Ähnlichkeit mit dem Leben von Merciers Helden. Alles ein rosarotes Idyll, politisch-philosophischer Heftchenroman also?

Doch damit täte man "Nachtzug nach Lissabon" unrecht. Es ist spannend, faszinierend, stilistisch gekonnt geschrieben. Dass Leser und Rezensenten ihre eigenen Wunschvorstellungen hineininterpretieren, lässt sich wohl kaum dem Autor anlasten. Aber es zeigt, wie ein Buch, in das der Leser versinken kann, eben auch Illusionen nährt. Wer wieder auftaucht, sollte den Kopf einschalten.

Leseprobe
Homepage des Autors

Nachtzug nach Lissabon, Pascal Mercier, Roman, btb, April 2006
ISBN 978-3-442-73436-8, TB, 495 Seiten, Euro 9,50

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