Neue Leben. Roman.
Ingo Schulze, Berlin Verlag, Oktober 2005


Die große Umwendung

"Statt wie sonst hinter uns herzutrotten und für jeden Schritt eine Belohnung zu fordern, sprang Robert wie ein junger Hund davon. Wir mussten durch eine Senke, der Schnee schimmerte bläulich und reichte uns bis zu den Waden. Der Modder unter dem Schnee war nicht gefroren. Auch Michaela und ich rannten. Als wir stehenblieben, hatten wir nur das weiße Feld vor und den grauroten Himmel über uns. Wir stiegen höher, überquerten einen Feldweg und gingen direkt auf den Wald zu. Der Wind fegte den Schnee von der Wintersaat. Ich gab mir Mühe, nicht hinter den beiden zurückzublieben. Sie kehrten aber nicht wie verabredet am Rande des Waldes um, sondern liefen hinein. Und so folgte auch ich dem Wegweiser ‚zum Silbersee'"

Enrico Türmer heißt der Held dieses Wenderomans, der uns in vielen Briefen aus seinem Leben erzählt. Die Briefe richten sich an seine Schwester Vita, den Freund Jo und die angebetete Westbekanntschaft Nicoletta. Letzterer gegenüber legt er eine "Beichte" ab über seine DDR-Zeit. Schriftsteller wollte er werden, die DDR demaskieren, dann würde er verboten, vom Westen freigekauft und würde dort berühmt werden. Doch das war ein Traum und Enrico nicht der Mann, ihn wahr zu machen. Er hält sich lieber aus allem raus. Er ist kein Stasi-Spitzel, kein Parteimitglied, kein Bürgerrechtler. So gelingt ihm sein geplanter Roman auch nicht, aber immerhin kann er sich als Künstler gerieren. Und selbst wenn er verliebt ist, tut er nur so, probiert er eine Rolle, denn Gefühle sind ihm eher fremd. So baut er auch in seinen Briefen eine Maske von sich selbst auf. Ansonsten arbeitet er als Dramaturg am Theater, doch diese Stelle und das, was dort passiert, ist ihm eigentlich egal.

Dann kommt die Wende und plötzlich scheint so vieles möglich. Mit anderen aus dem "Neuen Forum" gründet er eine Wochenzeitung in Altenburg. Plötzlich gibt es keine Planwirtschaft mehr, aber die Umstellung ist nicht leicht, vor allem, wenn man weder von der Technik noch der Betriebswirtschaft eine Ahnung hat. Woher auch? Da trifft es sich gut, dass ein westdeutscher Unternehmensberater sich in Altenburg niederlässt, ein Herr von Barrista, einer der zahlreichen schrägen Vögel, die damals aus dem Westen in die untergehende DDR einfielen.

Der bringt den zögernden Ossis bei, was Anzeigen-Aquisition heißt und Marktwirtschaft.

Ingo Schulze erzählt das nicht nur in Briefen, er selbst stellt sich als Herausgeber der Briefe dar und versieht diese mit Fußnoten. Ecco hat in der Name der Rose ein faszinierendes Verwirrspiel damit geschaffen, der Dämon Bartimäus hat in dem gleichnamigen Buch seine Leser mit Fußnoten gefesselt und erheitert. Aber hier gelingt weder das eine noch das andere. Die Fußnoten erklären Ausdrücken, die Nicht-DDRlern nicht geläufig sind, weisen darauf hin, dass und wo Türmer in seinen Briefen keineswegs ehrlich ist, wo er sich in Widersprüchen verwickelt. Schon letzteres ist etwas merkwürdig, andere Autoren haben dies weit eleganter als mit Schulzes erhobenen Zeigefinger gelöst. In den meisten Fällen allerdings werden die Fußnoten nur genutzt, damit der Autor uns Lesern erklärt, was denn mit dieser oder jener Stelle gemeint sei. Der Autor erklärt sein Werk, liefert gleich die korrekte Interpretation einzelner Stellen mit. Literaturwissenschaftlern mag das die Arbeit erleichtern, mich hat es genervt.

In Briefen sind Leute geschwätzig, in Briefen kommt es auf den Stil nicht an. Beides trifft auch auf die Briefe in dem Buch zu. Neue deutsche Geschwätzigkeit, dazwischen immer mal wieder gute Szenen, treffend geschildert. Der Besuch in der Partnerstadt Offenburg, die Zeit der Demonstrationen und die Spannung, als aus dem einstigen Bürgerforum-Blättchen ein ganz anspruchsloses, dafür aber wirtschaftlich erfolgreiches Anzeigenblatt wird. Schon mancher durchgeistigter Intellektuelle hat mit Verblüffung erlebt, wie spannend die Gründung und Führung eines ganz profanen Unternehmens sein kann. Enrico, der sich jetzt Heinrich nennt, gehört dazu.

Doch meistens nerven in den Briefen endlose, nichtssagende Beschreibungen, manchmal mit verunglückten Metaphern gespickt. Offenbar wollte der Autor möglichst alles beschreiben, der Wenderoman stand auf dem Programm und diese Anforderung, da wäre weniger viel, viel mehr gewesen. Die Wandlung eines entschlusslosen Möchtegern-Künstlers zum freien Unternehmer hätte man auf 200 Seiten viel eindrücklicher schildern können.

Wenn ich nach einer Stunde dachte, gut, jetzt habe ich was weggelesen und blickte auf die Seitenzahlen waren es fünf ...

Immerhin, das Buch ist sehr dick, macht sich gut im Bücherregal. Und eine Festschrift, die liest sowieso niemand, die dient der Erbauung. Insofern also doch der herbeigesehnte Wenderoman. Aber für mich die Enttäuschung des Jahres.

Fazit: dicker Briefroman über die Wende, dem weniger Umfang und Anspruch deutlich gut getan hätte.

Über den Autor: Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und studierte klassische Philologie in Jena. Anschließend war er bis 1990 als Dramaturg am Landestheater in Altenburg tätig, leitete ein Anzeigenblatt und lebt seit Mitte der Neunziger in Berlin. Er erhielt unter anderem den Alfred Döblin Förderpreis, den Ernst Willner Preis beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb und den Aspekte Literaturpreis.

Neue Leben, Ingo Schulze, Roman, Berlin Verlag, Oktober 2005
ISBN 3827000521, gebunden, 790 Seiten, Euro 22,00

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