Krokodil im Nacken. Roman.
Klaus Kordon, dtv, Dezember 2005


DDR Innenansichten

"Von nun an gilt: Betritt jemand von der Wachmannschaft den Verwahrraum, haben Sie sich ordnungsgemäß zu melden. Ihre Verwahrraumnummer ist die Hundertzwo, der Raum ist für zwei Häftlinge vorgesehen. Wer von der Tür aus rechts schläft, bekommt die Nummer Eins. Sie haben die linke Pritsche gewählt, also sind sie die Nummer Hundertzwo-zwo. [...] Wird also die Tür geöffnet, treten Sie soweit wie möglich zurück, legen die Hände an die Hosennaht und melden sich mit Hundertzwo-Zwo. Haben Sie verstanden?"

Manni Lenz wächst in Ostberlin auf. Der zweite Weltkrieg ist grade vorbei, der kalte Krieg steckt noch in den Kinderschuhen. Doch nicht lange. Bald gibt es zwei Staaten, zunächst kann man mit der S-Bahn zwischen ihnen hin- und herpendeln. Doch als Manni achtzehn ist, wird die Mauer gebaut. Jetzt ist die DDR abgeschottet, der Westen weiter weg als der Mond und die Flucht dorthin nicht nur gefährlich, sondern auch eine kriminelle Straftat.

Zunächst kein großer Beinbruch. So schlecht ist das Leben im Osten auch wieder nicht, findet Manni, er muss nicht hungern, findet Arbeit und später macht er sein Abitur und studiert. In den Betrieben, in denen er arbeitet, macht er rasch Karriere. Sogar Dienstreisen ins Ausland, nach Indonesien, Indien sind möglich. Doch damit beginnen die Probleme. Denn wer eine leitende Stellung innehat, soll in der Partei sein, muss den Untergebenen gegenüber die offizielle Linie vertreten. Immer wieder wird dieser Wunsch an ihn herangetragen, doch Manni möchte nicht. Soweit will er sich nicht verbiegen. Sein Gewissen hängt ihm wie ein Krokodil im Nacken und schnappt zu, wenn er zu opportunistisch ist.

Da ist zum Beispiel der Prager Frühling. Der wird zwar von der kommunistischen Bruderpartei in Prag getragen, aber trotzdem mit Argwohn gesehen und bald rollen die Panzer in der goldenen Stadt ein und beenden das Experiment, auf das so viele in der DDR ihre Hoffnung gesetzt haben. Manni darf, muss die Erklärung des Politbüros den Angestellten vortragen.

Er hat jetzt zwei Kinder. Und immer wieder plappern die Parolen aus Kindergarten und Schule nach, stellen Fragen, die die Eltern nicht beantworten können, nicht beantworten dürfen. Die Kinder bekämen Probleme, würden sie die DDR kritisch sehen und die Eltern erst recht, wenn deren Meinung bekannt wird.

Die Eltern beschließen, in die BRD zu flüchten. Über Bulgarien, dort wird sie die Schwägerin mit Pässen - echten Pässen! - erwarten und die Familie über die Grenze in die Türkei ausreisen.

Doch irgendwer hat sie verraten und Manni landet im Knast.

DDR Alltag beschreibt das Buch, den Alltag im zivilen Leben und im Knast. Die schlimmsten Zeiten sind vorbei, niemand sperrt mehr Häftlinge in Gulags ein, Prügeln und Folter mag vorkommen, doch die machen um Manni einen weiten Bogen. Die DDR ist auf internationale Reputation bedacht, da macht sich so was schlecht. Trotzdem ist der Knast kein Zuckerschlecken. Denn Einzelhaft, keine Kontakte nach draußen, kein Rechtsanwalt, kein Untersuchungsrichter, der Stasi-Beamte ist allmächtig wie Gott und was mit Mannis Frau passiert, wie und wo die Kinder sind, das verrät ihm keiner.

Die DDR, die uns Kordon vorstellt, ist kein drittes Reich, die Schergen keine SS. Aber wer kein Massenmörder ist, ist deshalb noch lange kein liebenswürdiger Mensch. Kordons schildert das anschaulich, er hat sogar Verständnis für die Gegenseite, die Argumente der verschiedenen Kader, der Opportunisten, der Fanatiker wie derer, die an die DDR glauben, weil sie das dritte Reich erlebt haben, diese Argumente schildert er ausführlich. Doch gerade deshalb ist es auch eine vernichtende Geschichte der DDR Wirklichkeit.

Eigentlich liegt ja der Fall klar: Republikflucht, Doch für den Stasi Vernehmer ist nichts klar, als Geheimdienstler wittert er überall Verschwörungen. Handelt es sich vielleicht auch um Spionage? Oder staatsfeindliche Hetze? Dann entdeckt er in der Wohnung Mannis heimliche Schreibversuche. Die Geschichten erzählen von einer DDR, wie sie sich nicht im Neuen Deutschland steht. Klarer Fall, hier handelt es sich um staatsfeindliche Hetze und Aufwiegelung. Wie jemand mit Texten, die er niemand zeigt, aufwiegeln kann, ist ein Geheimnis, das wohl nur Geheimdienste lüften können.

Wenn er nur gestehe, wenn er nur zeige, dass er Reue fühle - zum Beispiel dadurch, dass er andere bespitzelt - dann käme ihm der Staat entgegen, dann könne er vielleicht seine Kinder wieder sehen. Manni geht darauf nicht ein, aber wie viele haben nach diesem Strohhalm gegriffen? Auch Einzelhaft, die Angst um die eigenen Kinder kann Menschen zermürben und lässt sie gestehen, was sie nicht getan haben, der Vernehmer aber hören will.

So ist das Buch auch ein Lehrstück über Geheimdienste und Menschenrechte. "Wir sind nicht in den USA", hält der Leutnant ihm entgegen, als Manni nach einem Anwalt verlangt. Das wäre heute nicht mehr unbedingt wahr. Und jeder, der diese Schilderungen liest, kann sich vorstellen, was dort passiert, wo es keine Anklage, keine Öffentlichkeit, keine Richter, keinen Rechtsbeistand gibt, sondern das Recht der Geheimdienste, festzuhalten, wen sie festhalten möchten. Dass jeder Verhaftete einem Richter vorgeführt werden muss, Anspruch auf einen Rechtsbeistand hat, ist keine Spinnerei gefühlsduseliger Menschenrechtler. Es ist eine politische Notwendigkeit, will man wirklich die Wahrheit herausfinden und nicht das, was Stasi- oder CIA-Mitarbeiter gerne hören wollen. Viele Verschwörungen bedeuten schließlich schnelle Karriere.

Kordons Buch schildert die fünfziger, sechziger Jahre so anschaulich wie kaum ein zweites und das ohne jeden erhobenen Zeigefinger. Ein Pageturner, wie man ihn selten findet.

Fazit: für alle, die etwas über die DDR, die sechziger und fünfziger Jahre wissen wollen, ein unbedingtes Muss. Spannend und anschaulich gleichzeitig.

Leseprobe

Über den Autor: Klaus Kordon wurde 1943 in Berlin geboren. Der Vater blieb im Krieg, die Mutter starb 1956. Danach Kinderheim, später Jugendheim, nach mehreren Berufen machte er das Abitur an der Volkshochschule und studierte Volkswirtschaft. 1972 wurde er in DDR wegen "Republikflucht" zu Haft verurteilt, 1973 freigekauft und wechselte in die BRD über. Heute lebt er in Berlin. Seit ist er 1980 freiberuflicher Autor.
Kordon veröffentlichte bisher an die 50 Bücher, die in viele verschiedene Sprachen übersetzt wurden und heute schon zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur gehören. Er erhielt mehrere Preise, unter anderem den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Silbernen Griffel (ein niederländischer Preis für ausländische Autoren) und den Alex-Wedding-Preis für sein Gesamtwerk. Er ist Mitglied des PEN.

Krokodil im Nacken, Klaus Kordon, Roman, dtv, Dezember 2005
ISBN 3423134046, Taschenbuch, 796 Seiten, Euro 10,00

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