Schule des Erzählens.
Ein Leitfaden für Roman- und Drehbuchautoren (Sondereinband)
Sybille Knauss, Autorenhaus Verlag, August 2006


Lebendige Geschichten

Was hat "Jonas im Walfisch", eine zweieinhalbtausend Jahre alte Geschichte aus der Bibel mit "American Heroe", einem Film aus Hollywoods Traumfabrik gemein? Sie wissen es nicht? Lesen Sie "Schule des Erzählens", allein diese vier Seiten sind es wert. Das Buch ist vielleicht nicht das beste Buch übers Schreiben, sicher aber das Amüsanteste, das ich kenne. Selten hat es eine Autorin verstanden so spannend über die "Geschichte hinter der Geschichte" zu fabulieren und dem Leser gleichzeitig wichtige Erkenntnisse über Stoff, Schauplatz, Charakter und Plot zu vermitteln. Sie untersucht eine Vielzahl von Geschichten, Romanen und Filmen, altehrwürdige aus der Bibel und Newcomer aus Hollywoodschnulzen.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptabschnitte.

Wie findet ein Autor seinen Stoff? Gerne werden da Zeitungsmeldungen genannt.

"Sollte es jemals misslingen, einen Stoff durch einfaches Aufschlagen einer Zeitung zu finden, kombinieren Sie zwei miteinander. [...]

Ist es so einfach? Ja. Es ist so einfach, wie eine Frau oder einen Mann für eine Nacht zu finden. Gewusst wo und wie, kann das jeder. Aber mit Liebe hat das fast nie was zu tun. Eher mit Simulation von Liebesspiel, so wie die oben entwickelten Handlungspanoramen keine Geschichten sind, sondern Geschichten simulieren. Was nicht ausschließt, dass eine große Liebe als One-Night-Stand beginnt und dass ein Stoff aus der Zeitung zum Meisterwerk avanciert. [...]

Schreiben hat etwas mit Liebe zu tun! Man braucht nicht irgendeinen, man braucht den Stoff seines Lebens. Und wie man den Geliebten nicht aufgrund seiner Vorzüge willen wählt, so entscheidet man sich für einen Stoff nicht aufgrund seiner Großartigkeit, sondern, wie in der Liebe, weil er etwas Gewisses, etwas Einmaliges hat. [...] Er lässt einem keine Ruhe mehr.

Meine Erfahrung rät mir, auf der Suche nach Stoffen, an denen es sich zu arbeiten lohnt, zweierlei nicht aus den Augen zu verlieren: das eine ist der Mythos, das andere die zeitkritische Relevanz."

Am Beispiel ET: "Wie kann der Besucher aus dem All uns so nah kommen? [...] Die Geschichte von dem Außerirdischen, der auf der Erde mitten unter uns lebt, dann aber wieder gehen muss (heim), nachdem er Helfer und Tröster war, und noch vage verspricht, dass er vielleicht einmal wiederkommen wird aus seiner kosmischen Ferne - ist das nicht alles merkwürdig vertraut und bekannt? Die Blasphemie muss nur deutlich genug sein, damit man sie nicht mehr erkennt. [...]

Wie konnte es sein, dass 1981 ausgerechnet dieser Stoff so erfolgreich war, mit dem die Kirchen schon lange keine Besucherrekorde mehr erzielen?"

Der Schauplatz der Geschichte wird von vielen Schreibratgeber - und noch mehr Autoren - mehr als stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht. Nehmen wir den Wald: "Seit wir Jäger und Sammler waren, wissen wir, dass der Wald ein ganz besonderer Schauplatz ist. Wenn wir ihn betreten, [...] geraten wir in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit. [...] Viel zu spät fällt uns plötzlich die alte Warnung ein: Gib acht, dass du nicht vom Weg abkommst!

Du meine Güte: der Wolf!

Wie konnten wir uns so weit in sein Terrain wagen?

Wir bleiben stehen. Mit gesträubtem Haar drehen wir uns um. Keine Zuflucht. Nirgends Sicherheit. [...]

Oder das Schloss, Blaubarts Zimmer, Rebecca von Daphne Maurier, kongenial verfilmt von Hitchcock: "Last night I dreamt, I were in Manderley again [...] so beginnt Rebecca von Daphne du Maurier. [...] Mit diesem Satz betreten wir den Bezirk der Erinnerung. Wir tun es nach Art der Träumenden, indem wir durch ein verschlossenes Tor hindurchgehen, als wäre da nichts. Von Hitchcock und du Maurier geführt, geistern wir über die Wege des Schlossparks, wo ,die Natur sich wieder ihr eigenes Reich erobert hat'. ... Blaubart ist eine Frau, des Schlossherrn erste Frau."

Wie bekommen wir einen Helden? Suchen wir nach der Verletzung: "Nicht einmal James Bond ist unverletzlich. So wenig wie es der große blonde Siegfried ist, der immerhin im Drachenblut gebadet hat, das unverwundbar macht. Wäre ihm nicht ein kleines Lindenblatt auf die Schulter gefallen, könnte man Siegfried vergessen. [...] Er wäre irgendwann an Altersschwäche gestorben, wie so viele, die kein Mensch besingt."

Und dann, ja dann schreibt Sybille Knauss über den Plot. "Was haben Scheherazade und Fernsehprogrammgestalter gemeinsam?

Die Angst.

Sie wissen beide, dass es um Sein oder Nichtsein geht und dass sie nur solange am Leben gelassen werden, wie sie unterhaltsam sind. Im Grunde erleben sie beide nichts anderes als den immerwährenden Aufschub ihrer Hinrichtung, indem sie [...] etwas erzählen.

Das Publikum braucht sich nur leicht gelangweilt zu fühlen und schon besinnt es sich auf seine ursprüngliche Absicht - die Hinrichtung des Erzählers. Mühelos und beiläufig vollstreckt sie das Publikum, indem es weiter zappt oder ein Buch zuschlägt. Pech für Scheherazade."

Die schwere Arbeit des Schreibens ist nämlich nicht das Drechseln von Sätzen, die Suche nach dem richtigen Ausdruck. Die schwere Arbeit des Schreibens beginnt dort, wo ein größerer Zusammenhang konstituiert wird.

So führt der Weg in eine Geschichte über die Zuspitzung der Ereignisse auf eine einzige Alternative. Es sind die Prämissen, die im Charakter gründen und den Leser in Bann ziehen. Ein weit verbreiteter Irrtum behauptet, dass ein Plot erfunden wird. Nein, er wird entwickelt. Und zwar aus dem gewählten Charakters, nicht, wie die Verächter des Narrativen in Literatur und Film glauben machen, aus einem Kartenhaus, nicht daraus, dass man den Helden einfach auf Abenteuerfahrt schickt. Sondern im Magneten des Charakters, seinem Wunsch, seiner Besessenheit entwickelt man einen Plot. Ahab und sein Hass auf den weißen Wal ...

Sybille Knauss gibt kein Patentrezept, wie ein Autor seine Leser fesseln kann. Gerade das Fehlen eines griffigen, alle Schreibprobleme lösenden Regelsystems ist ihre Stärke. Dafür fesselt sie den Autor, ja jeden, der ihr Buch liest, auf ganz eigene Art. Weil sie den Blick für eine Geschichte schult.

So gut das Buch ist, so abstrakt ist das Vorwort. Das hätte meiner Meinung nach eigentlich besser am Schluss gestanden. Aber die ersten vier Seiten kann jeder Leser überblättern, nach der Lektüre des Textes lesen, die restlichen 178 sind den Preis von 14,90 allemal wert. Ich würde mich sogar dazu versteigen: Besser kann man fast fünfzehn Euro nicht anlegen.

Fazit: Ein Schreibratgeber? Ach was, ein Parforceritt durch die Welt der Literatur, des Mythos, der Geschichten. Jeder, der schreibt, jeder, der sich für Geschichten interessiert, sollte es auf dem Bücherbrett haben!

Über die Autorin: Sybille Knauss studierte Germanistik und Theologie, schrieb mehrere Romane, darunter den Bestseller "Evas Cousine" und arbeitet als Professorin für Text und Dramaturgie an der Filmakademie Baden-Würtemberg.

Schule des Erzählens, Sybille Knaus, Schreibratgeber, Autorenhaus Verlag, August 2006
ISBN-10: 3-86671-011-9, ISBN-13: 978-3-86671-011-5, TB, 183 Seiten, Euro 14,90

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