Jägerin der Zeit. Historischer Roman.
Kathrin Lange, Kindler, März 2005


Wie erfindet man 275 Jahre und einen Kaiser?


Eines Tages steht ein Bote vor dem Tor des abgelegenen Klosters St. Kyrillos in Reims. Er kommt von der deutschen Kaiserin Theophanu, die für ihren Sohn Otto III. die Staatsgeschäfte führt. Und teilt der Äbtissin Alexandra, einer Freundin Theophanus, den Tod ihrer Schwester mit.

Die Schwester wurde ermordet. Ein Geheimbund, die Skriptorii, treibt sein Unwesen Theophanu ist überzeugt, dass dieser auch sie umbringen will. Denn sie hat etwas erfahren, was der byzantinische Kaiser unbedingt geheim halten will.

Alexandra will davon nichts wissen. Sie schickt den Boten weg, ohne ihn anzuhören. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß und wenn sie das Geheimnis nicht kennt, lebt sie in Sicherheit.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn die Sriptorii glauben, dass Alexandra Mitwisserin ist und bald verfolgen sie sie und ihr Mündel Sophia. So muss sie aus dem Kloster fliehen, untertauchen, den Skriptorii entkommen und gleichzeitig das Geheimnis aufdecken, das sie doch erst gar nicht hören wollte. Die Kaiserin kann sie nicht mehr fragen, denn die ist mittlerweile tot, ebenso wie der Bote. Dass das Geheimnis mit einer Kalenderreform im fernen Byzanz zusammenhängt, durch die 275 Jahre in den Kalender eingefügt werden sollen, das ist bekannt.

Aber allein wegen 275 Jahren mehr oder weniger mordet doch niemand? Was also versteckt sich hinter dieser Kalenderreform?

Kathrin Lange hat ein Verwirrspiel um Geschichtsschreibung, Kalender und Zeitrechnung geschrieben, dass den Leser bald in Bann schlägt. Geheimbund, das klingt nach Thriller, aber das Buch bietet weit mehr. Die Probleme der Zeitmessung vor über tausend Jahren werden nach und nach enthüllt, auch, warum diese Zeitmessung so wichtig für die damaligen Wissenschaft war. Da schwant dem Leser, dass damals die Grundlagen für unsere Uhren und manches mehr gelegt wurden. Überhaupt gibt das Buch einen guten Einblick in Leben und Denken der Zeit und zeigt einmal mehr, dass das "finstere" Mittelalter so finster gar nicht war.

Der Roman ist eng mit Zeit und Geschichte verwoben. In vielen historischen Romanen ist die Zeit nur Kulisse, die Geschichte selbst könnte genauso gut heute spielen, die Personen sind moderne Menschen, die in die Kulisse eines anderen Jahrhunderts gestellt worden sind.

Ganz anders dieser Roman. Er kann nur in dieser Zeit kurz vor der Jahrtausendwende spielen, weil die Geschichte eng mit dem historischen Hintergrund verwoben ist und ohne diesen gar nicht denkbar wäre.

Dabei wird eine These benutzt, die ein Historiker aufgestellt hat: Die Jahre von ca 700-1000 hätte es nie gegeben, sie seien von einem Kaiser erfunden worden ("das erfundene Mittelalter" heißt das entsprechende Sachbuch). "Jägerin der Zeit" spielt diese These konsequent durch. Warum könnte ein Kaiser auf die Idee kommen, dreihundert Jahre Geschichte zu erfinden? Und wie würde das praktisch vor sich gehen?

Man muss die These vom erfundenen Mittelalter nicht glauben, um das Buch mit Genuss lesen zu können. Denn es ist in jedem Fall ein spannendendes Gedankenexperiment: Was wäre, wenn?

In diesen historischen Teppich sind zahlreiche private Schicksale eingewebt. Das Klostermündel Sophia, das seine Eltern nicht kennt, aber nach ihnen sucht. Der Adelige Ludger, der in Alexandra verliebt war und glaubt, an ihrem Tod Schuld zu sein. Der Gelehrte Gerbert, der seine große Liebe verließ, um wissenschaftliche Karriere zu machen. Der Abt Carolus, aus dem die neue Geschichtsschreibung einen großen Kaiser macht. Und zahlreiche andere, deren Schicksale zusammen einen farbenprächtigen Geschichtenteppich ergeben. Am Anfang musste ich mich erst in das Buch einlesen, aber nach den ersten hundert Seiten hat es mich gepackt und ich konnte und wollte es nicht mehr aus der Hand legen.

Ein Muss für alle, die historische Romane lieben. Aber auch manch anderer wird an dieser Mischung von Fiktion, Geschichtsschreibung und Spekulation Gefallen finden.

Leseprobe:
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Über die Autorin: 1969 wurde Katrhin Lange in Goslar am Harz geboren. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Im Brotberuf ist sie freie Verlagsherstellerin. Jägerin der Zeit ist ihr erster Roman, davor hat sie einige Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht. Mehrere Jahre war sie Chefredakteurin der Autorenzeitschrift "Federwelt" (Uschtrin Verlag).

Jägerin der Zeit, Kathrin Lange, historischer Roman, März 2005, Kindler
ISBN 3- 463 40475-3 19,90, gebunden, 528 Seiten, Euro 19,90

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