Himmelsreise: Mein Streit mit den Wächtern des Islam. Sachbuch.
Necla Kelek, Kiepenheuer & Witsch, März 2010
»Üblicherweise wird jeder, der einen muslimischen Vater hat, zur Umma gezählt, und so kommt man inzwischen auf 4,3 Millionen Muslime in Deutschland. Das mag man hinnehmen, wenn man den Islam als eine Kultur definiert und solche Zuschreibungen zur Unterscheidung von kulturellen Prägungen beiträgt. Von dieser Gesamtheit sprechen wir, wenn wir von den Muslimen sprechen. Wenn man den Islam nur als eine Religion beschreibt, dann allerdings dürften wir nur von jenen als „Muslimen“ sprechen, die sich ausdrücklich zu dieser Religion bekennen, und das ergibt eine ganz andere Zahl, die irgendwo zwischen einem guten Drittel und höchstens der Hälfte dieser 4,3 Millionen Menschen liegen dürfte. Und fragen wir dann noch weiter, wer von diesen muslimischen Gläubigen den Islamverbänden angehört oder sich durch sie vertreten fühlt, dann dürfte noch nicht einmal jeder achte diese Frage bejahen.«
Necla Kelek will sich mit denen auseinandersetzen, die sich als Fürsprecher des Islams verstehen, festlegen wollen, was Mohammedaner dürfen und was nicht. Denn diese sind nicht nur eine kleine Minderheit, sondern obendrein untereinander heftigst zerstritten. Dafür werden sie viel deutlicher wahrgenommen als die anderen, die längst in Deutschland angekommen sind.
Dabei geht es ihr nicht darum, aus den heiligen Schriften einen „wahren“ Islam herzuleiten oder zu destillieren, was Mohammedaner angeblich glauben müssten. Sondern darum, was Muslime tatsächlich glauben, wie Islam gelebt wird. Als Nicht-Mohammedaner aus dem Koran und den Hadithen (überlieferte Sprüche Mohammeds) herzuleiten, was Mohammedaner glauben oder nicht glauben müssten, ist zwar weitverbreitet, aber auch nicht sinnvoller, als wenn Nichtkatholiken aus der Bibel herleiten, was Papst und Katholiken glauben.
Einmal mehr stellt sie die Geschichte des Islam in den Vordergrund. Der Koran wie auch die Hadithe wurden lange Jahrzehnte mündlich überliefert, wie das neue Testament erst lange nach dem Tod des Religionsgründers schriftlich festgehalten. Und das, was Islam ist, hat sich in der Geschichte oft genug geändert. Die Autorin schildert ausführlich die Entstehung des Islams unter Mohammed in Mekka und Medina, die Wirkung auf die Philosophen und dass der Islam auch deshalb zur Erfolgsgeschichte wurde, weil er, anders als das Christentum, keine Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen kannte – sprich: keine Kirchenhierarchie.
Doch bald verfestigte sich der Glauben. Der Koran wurde zum wortwörtlich aufgefasstem heiligen Buch, an dem keinerlei Zweifel mehr erlaubt wurde, ein Buch, das widerspruchsfrei dem Gläubigen erklärt, was er tun und was er lassen solle. Das, obwohl viele Suren im Koran sich deutlich widersprechen. Sie bringt das Beispiel Ibn Ruschd, besser bekannt unter dem Namen Avarroes, ein Philosoph und Mystiker, der Philosophie und Offenbarung trennen wollte. Im christlichen Europa wurden seine Werke bald bekannt, der andalusische Kalif ließ sie verbrennen. So wird unter islamischen Theologen immer noch mit Worten aus dem Koran gefochten. Wer etwas sagt, sucht sich Zitate, um das Gesagte zu beweisen, ähnlich den Theologen, die Galileos Behauptung, die Erde drehe sich um die Sonne, mit Bibelzitaten zu widerlegen suchten oder gar der Meinung waren, die Wissenschaften habe die Magd der Theologie zu sein.
Die Sonne hat das wenig beeindrucken können. Und auch der Islam ist nicht so ewig und unveränderlich, dass er nicht der Historie unterliegen würde. Auch wenn viele traditionelle Mullahs gerne diesen Eindruck erwecken. Schon gar nicht ist die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, eine einige Familie. Zwar wollen alle nach außen diesen Eindruck erwecken, streiten aber – wie viele Großfamilien – nach innen, dass die Fetzen fliegen.
Necla Kelek will den Islam zeigen, wie er ist, nicht, wie er sich selbst darstellt, aber auch nicht, wie er von anderen dargestellt wird.
Deshalb schildert sie, wie sich die gelebte islamische Kultur von der deutschen unterscheidet, welche anderen Werte dort herrschen und was sie bedeuten. Von „Respekt“ über die „Herrschaft der Mütter“ bis zu „Ehre“, „Achtung“ und Schwulsein – letzteres ist einerseits häufig, darf aber andererseits nicht öffentlich werden.
Sie schildert einige Moscheebesuche, darunter die von „Marxloh“, einer Riesenmoschee in einem verfallenden ehemaligen Arbeiterbezirk, erzählt von Moscheevereinen mit 500 Mitgliedern, die dennoch Moscheen für über 1000 Gläubige bauen, die Geschichte der Migration, wie sie vom türkischen Ministerpräsidenten Erdogan gesehen wird und als „Opfergeschichte“ erzählt wird, die vielen, die sich integriert haben und gar nicht auffallen, weswegen auch keiner über sie spricht und die ebenfalls zahlreichen, die Distanz wahren wollen. Sie schildert zwei verschiedene Migrationsgeschichten, die das verdeutlichen.
Und sie schildert die Rolle der Frau in der Türkei und in den türkischen Gemeinschaften. Dass dort die Menschen vornehmlich als Teil einer Gemeinschaft wahrgenommen werden, der Einzelne ist Nichts, die Gemeinschaft ist alles. Weswegen zum Wohl der Gemeinschaft jede Selbstverwirklichung unterdrückt wird, die Kinder heiraten sollen, wen die Eltern aussuchen, die Jüngeren sich den Älteren unterordnen müssen. Das Kopftuch, das im Koran eher nicht vorkommt, im praktischen Leben heute aber eine zentrale Rolle eingenommen hat.
Hier verliert die Autorin sich schnell, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, reißt Themen kurz an, ohne sie auszuführen. Letzteres geht auch nicht, weil es einfach zu viel ist, was sie anspricht. Die oft dubiose Finanzierung der Moscheen, die vermutlich stark von Saudi Arabien gefördert werden, Moscheevereine, die systematisch von radikalen Muslimen unterwandert und systematisch übernommen werden. Allein dieses Thema wäre es wert gewesen, sehr viel ausführlicher behandelt zu werden. Manche andere Themen liegen schon weit weg vom roten Faden des Buches, so etwa der weiße Elefant, den Harun al Raschid Karl dem Großen schenkte.
Das ist denn auch der Hauptvorwurf, den man dem gut geschriebenem Buch machen muss. Dass an vielen Stellen der rote Faden fehlt. Dass oft auch die türkisch-deutschen Gemeinschaften so statisch beschrieben werden, wie traditionelle Mullahs es gerne hätten. Aber allein das Kopftuch, vor 1990 eher selten zu sehen, heute allgegenwärtig, zeigen, dass sich dort eine Menge verändert. Auch die wachsende Zahl deutsch-türkischer Intellektuellen, in der Mehrzahl Frauen, die sich in die deutsche Politik einmischen und in das tradierte Islamverständnis.
Auf der anderen Seite betonen heute selbst fundamentalistische Islamseiten im Internet, dass Zwangsverheiratung „unislamisch“ sei und belegen das mit Koranversen. Ob das immer ehrlich gemeint ist, sei dahingestellt, aber es zeigt doch, dass der Punkt „Zwangsheirat“ auch radikalen Moslems langsam peinlich wird.
Vielleicht habe ich mir auch einfach zu viel von dem Buch erhofft? Jedenfalls zerfasert es für mich in der Mitte zu sehr, will zu viele Themen aufgreifen – „Sex und Islam“ hat Seyran Ates in „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ sehr viel besser und konsequenter behandelt -, reißt Themen in ein, zwei Sätzen an und lässt sie gleich wieder fallen.
Für problematisch halte ich es, „Individualität“ als Gegensatz zu „Gemeinschaft“ zu begreifen. Das wird zwar gerne von islamischen Fundamentalisten behauptet (und auch von manchem deutschen Konservativem), da wird der „Egoismus“ der Selbstverwirklichung in Gegensatz gesetzt zur „altruistischen“ Unterordnung unter der Gemeinschaft und der willigen Einordnung in vorgegebene Rollen. Doch auf dieses Spiel sollte man sich nicht einlassen. Gemeinschaft und Individualität, Altruismus und Selbstverwirklichung sind kein Gegensatz und das sollten wir uns nicht von Dogmatikern einreden lassen.
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