Herrin der Lüge. Historischer Roman.
Kai Meyer, Lübbe, Juli 2008


»Der kleinere der Jungen stolperte – nicht zum ersten Mal. Der Mann fluchte leise, zerrte ihn zurück auf die Füße und wünschte insgeheim, er könnte sanfter sein, liebevoller, wie es sich für einen Vater gehörte.
Es war der dritte Tag der Plünderung, und noch immer wehten Feuer in lodernden Flammenstürmen über die Dächer und Kuppeln Konstantinopels hinweg, schlängelten sich in zerfransten Glutspiralen an Türmen empor und fauchten hungrig durch die Gassen und einstigen Prachtstraßen.«

1204 erobert ein Kreuzfahrerheer Konstantinopel und plündert es. Das byzantinische Weltreich ist zerstört, Konstantinopel ist fortan keine reiche Weltstadt mehr, sondern eine heruntergekommene Kleinstadt, die bald den Osmanen in die Hände fallen wird. Was die Kreuzfahrer angeblich verhindern wollten, erreichen sie. Über Anatolien wird der Halbmond herrschen. Venedig hat es so gewollt, der Papst distanziert sich von dem Massaker, aber im Reich munkelt man, dass er durchaus nicht so unschuldig daran ist, wie er behauptet. Beweisen lässt sich das aber nicht.

Saga ist Seiltänzerin, einer der Gaukler, die durch die Lande ziehen, aber wenig Rechte haben. Ihr Bruder beschäftigt sich nebenbei mit kleineren Diebereien und bald sitzt er im Kerker der Gräfin Violante. Diebstahl ist ein schweres Verbrechen. Saga will ihren Bruder retten und die Gräfin bietet ihr einen Ausweg an.

Denn Saga kann nicht nur Seiltanzen. Sie kann lügen. In ihr wohnt ein Lügengeist und wenn sie ihm die Herrschaft über ihre Zunge überlässt, dann bildet der Worte, die falsch sind, aber gerne geglaubt werden. Saga kann jeden belügen.

Vorausgesetzt, er möchte belogen werden. Nur dann gewinnt der Lügengeist Macht.

Jetzt soll Saga junge Mädchen belügen und zu einem Kreuzzug der Jungfrauen aufrufen, dann wird ihr Bruder freigelassen.

Saga lässt sich auf den Handel ein. Anfänglich hat sie Skrupel wegen ihrer Kreuzzugspredigten, doch immer mehr gerät sie selbst in den Bann ihrer Worte. Schließlich folgen ihr fünftausend Mädchen, die von zu Hause fortlaufen; Eltern, Verlobte und elende Heime verlassen, um im Morgenland ihr Glück zu finden.

Warum ruft die Gräfin einen Kreuzzug aus? Zunächst scheint es, dass sie damit ihren Mann suchen will, der im heiligen Land verschollen ist. Doch die Lüge beherrscht nicht nur Saga und im Roman ist keiner ohne Schuld.

Kai Meyer hat mit diesem Buch ein dickes Meisterwerk vorgelegt. Er fängt die Zeit der Kreuzzüge ein, fügt etwas Fantasy dazu, baut einen perfekten Spannungsbogen, auf dem er seine Figuren tanzen lässt und hält den Leser bis zur letzten Seite in Bann. Und zum Schluss präsentiert er eine Lösung, die durchaus möglich gewesen sein könnte, auch wenn es nie einen Kreuzzug der Jungfrauen gegeben hat – wenn auch einige ähnliche Unternehmungen.

Auch stilistisch ist das Werk aus einem Guss, im Gegensatz zu so manchem anderen historischem Roman. Kai Meyer hat sich in den letzten Jahren zu einem Ausnahmeautor entwickelt. Nicht dass seine früheren Werke schlecht gewesen wären, aber von der Alchimistin zur Herrin der Lüge, von der fließenden Königin zu Seide und Schwert kann jeder Leser die Entwicklung verfolgen.

Für Action-Fans könnte dieses Buch eine Enttäuschung sein. Am Anfang entwickelt sich der Roman ruhig, die Personen und deren Konflikte stehen im Vordergrund. Doch sie sind es, die am Ende dann für um so mehr Handlung und Action sorgen.

Fazit: Ein ganz außergewöhnlicher Roman um Lüge und Wahrheit, Glauben und Realität.


Leseprobe
Autorenhomepage

Herrin der Lüge, Kai Meyer, historischer Roman, Lübbe, Juli 2008
ISBN-13: 978-3-404-15891-1, TB, 828 Seiten, Euro 9,95

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