Nichts als Gespenster.
Erzählungen
Judith Hermann, S. Fischer 2003



Die Angst der Autorin vor dem Stoff

"Ich schlief kurz und tief, der nächste Morgen war windig und grau, ich ging einkaufen, zurück in die Wohnung, las eine Zeitung, wusch meine Wäsche, sah meine Post durch, bei allem was ich tat, konnte ich mich von außen sehen, distanziert, aus weiter Ferne, leicht" (S.37).

Sieben Erzählungen finden sich in Judith Hermanns "Nichts als Gespenster", aber in allen ist die Ich-Erzählerin distanziert, sieht sich aus weiter Ferne. Was sie erzählt, erscheint leicht und alle Personen wirken nicht lebendig, sondern durchsichtig wie Gespenster, Personen auf der Suche nach ihren Gefühlen, die von einem schwarzen Loch, ganz weit weg, verschluckt worden sind.

Alle Geschichten haben mit Berlin zu tun, alle spielen woanders, aber egal, ob ein Auto eine einsame Spaziergängerin in der Wüste verfolgt, eine Frau sich in einen tschechischen Disko-Puff verirrt oder einen isländischen Geysir im Winter betrachtet, stets klingt es unterkühlt, weit weg, aus der Ferne, kalt. Und überall ist es gleich. "Es spielte keine Rolle, dass wir in Prag waren. Wir hätten auch in Moskau oder Zagreb oder Kairo sein können und wo immer wir gewesen wären, hätte Peter sich jetzt sein erstes Bier aufgemacht, einen Schluck getrunken, geseufzt, es wieder abgestellt und sich dann eine neue Zigarette gedreht." (S252)

Wunderschöne Beschreibungen finden sich in dem Buch, detailliert wie Raymund Carver betrachtet Judith Hermann ihre Gestalten, wie ein Forscher seine Insekten. Aber bei Carver sehen wir wenigstens in dem, was seine Personen tun und sagen, Andeutungen ihrer Gefühle, bei Judith Hermann fehlt selbst das. Manchmal verliebt sich die Ich-Erzählerin in einen Mann, der etwas anders ist, der - im Gegensatz zu den anderen - irgendetwas will oder möchte, aber das Gefühl, wenn es denn je echt war, vergeht schnell wieder. Oder vergeht es gar nicht, doch die Autorin mag es nicht wahrnehmen?

Melancholische Schilderungen, ein Bilderbogen der sich nie ändert, gestern war so wie heute, heute ist so, wie es morgen sein wird, in Island nicht anders als in Karlovy Vary, in Nevada nicht anders als am Nordkap, das ist Judith Hermanns Stärke, das ist ihre Schwäche.

Eine geniale Beobachterin ist die Autorin, aber warum muss sie sofort wegschauen, sobald auch nur die Gefahr aufscheint, dass ihre Personen Gefühle haben könnten, sobald ihre Beobachtungsgabe die absurden, die witzigen Seiten ihrer Personen entdeckt? Manchmal, aber selten blitzt derartiges auf, doch das verschwindet sofort wieder. Fürchtet sie, ihre Reputation bei der Literaturkritik zu verlieren? Hat sie Angst vor ihrem Stoff? Ich weiß es nicht.

So bin ich von dem Buch hin- und hergerissen. Einerseits faszinieren die Beschreibungen, andererseits erscheinen ihre Personen, als seien sie tiefgefrostet. Und ich stelle mir vor, was Judith Hermann schreiben könnte, wenn sie diese Schranke in ihren Erzählungen durchbrechen könnte.

Gebundene Ausgabe - 320 Seiten - Fischer (S.), Frankfurt
Erscheinungsdatum: 2003
ISBN: 310033180X
EUR 17,90
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