Gegend. Roman.
Nora Bossong, Frankfurter Verlagsanstalt, September 2006

"Die Häuser des Dorfes lagen am Hang, sie waren alle aus denselben ockerfarbenen Steinen gebaur und die Straßen rochen nach den Bäuchen von Schnecken. Jede Hauswand roch danach, warm und feucht. Die Kirche unterschied sich von den Wohnhäusern durch zwei Sandsteinfiguren auf dem Dach. Der Vater ging auf die heilige Katharina zu und sah hinauf, zwei Tauben paarten sich zwischen zerbrochenen Ziegeln. Er klopfte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nasenflügel, hielt inne, als prüfe er, ob noch Luft aus den Nasenlöchern kam. Eine der Tauben plusterte ihr Kehlgefieder auf."

Vater und Tochter fahren in ein Dorf, dort wollen sie in einer Pension übernachten. Doch schon die Adresse, die sie mitgebracht haben, scheint niemand zu kennen. Als sie das Haus endlich finden, gibt es dort nur einen Jungen, der ihnen mitteilt, dass die Tochter mit einer Marie in einem Zimmer schläft, der Vater ein eigenes Gästezimmer hat. So habe die Mutter es angeordnet. Doch die ist nicht da. Stattdessen taucht eine geheimnisvolle Frau namens Lo auf, die zwar nicht im obersten Stockwerk wohnt, dort aber zum Leidwesen des Jungen die Toilette benutzt.

Bald stellt sich heraus, dass in dem Haus außer dem Jungen und der Frau noch das Mädchen Marie lebt, die eine Halbschwester ist und ein geheimnisvoller Jakob. Keiner der Personen kann das Grundstück verlassen, dafür reagieren sie so geheimnisvoll unvorhersehbar wie sie reden. Und schließlich verschwindet erst Lo und dann der Vater.

Zweifellos kann die Autorin schreiben, so wie man heute schreiben sollte, will man literarische Preise einheimsen: lakonisch, sparsam. Sämtliche ungeschriebenen literarischen Schreibregeln werden beachtet. Leider ist das auch alles. Die versprochenen Spannung bleibt genauso aus wie das Grauen und die versprochene Geschichte; die Figuren wirken blass, eindimensional, selbst drittklassige Thriller können das besser. Ebenso beliebig wie die Figuren ist die ganze Handlung. Wenn man die Seiten schütteln und neu ordnen würde, würde das keinem auffallen. Zu willkürlich ist das alles, da gibt es weder eine Geschichte noch erzählerische Tiefe, da entstehen keine Bilder, das einzige, was hervorsticht, ist Beliebigkeit.

Als Leser gewinne ich den Eindruck, hier habe ich es nicht mit einem Roman, sondern mit einer Fingerübung zu tun, wie sie tausendfach in Schreibgruppen und Zirkeln produziert werden. Nur haben die anderen Produzenten das Glück, dass kein Verlag ihre Etüden druckt. Erst am Schluss, nach über 80 Seiten entwickelt sich auf einzelnen Seiten so etwas wie eine Geschichte, weckt der Text Bilder. So wirkt das alles wie ein erster Entwurf, als hätte die eigentliche Geschichte erst nach dieser Vorübung geschrieben werden sollen.

Buchumschläge übertreiben, das ist nichts ungewöhnliches. Doch dieser Buchumschlag, diese Verlagsankündigung übertreibt nicht, er ist eine einzige Mogelpackung. "Eindringliche Portraits eines beunruhigenden Kammerspiels" kündigt der Verlag an, "geraten die Neuankömmlinge in ein Machtspiel, das durch ihre Ankunft aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Eine Vereinigung der Familienhälften scheint unmöglich, die Atmosphäre feindlich. Die Isoliertheit, in die sich Vater und Tochter auf diesem Grundstück begeben haben, wird zur Falle. Die Erzählerin fürchtet, ihren über die Grenzen des Familiären hinaus geliebten Vater an Marie zu verlieren.". Mit Poe und Bram Stoker wird das Buch verglichen und verspricht ein sich steigerndes Grauen, ein ganz eigenes Lesevergnügen.

Doch nichts davon findet sich im Buch. Und wenn die Autorin schon nicht ihre Geschichte, ihre Personen gefunden und niedergeschrieben hat, hätte wenigstens das Lektorat darauf dringen können.

So beweist dieser Roman einmal mehr, dass es Literatur gibt und ein Literaturgenre. Wie im Fantasygenre immer neue "Herr der Ringe"-Klone produziert werden, in denen immer schlechtere Möchtegern-Tolkiens immer mehr Orks umbringen, ohne etwas zu erzählen, werden im Literaturgenre immer neue schön formulierte Texte geschrieben, die garantiert nichts erzählen. Mit Literatur hat das wenig zu tun. Der Wunsch, "literarisch" zu schreiben, garantiert eben keine guten Texte, dazu gehört eine Geschichte, lebendige Figuren und der Mut, sie zu erzählen.

Fazit: Eindimensionale Figuren und fehlende Geschichte kennzeichnen diesen Roman, der keiner ist, sondern eine Fingerübung.

Über die Autorin: Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, lebt in Berlin. Sie erhielt bereits etliche Auszeichnungen, darunter das Bremer Autorenstipendium und war 2004 in der Endrunde des Dresdner Lyrikpreises. Für Auszüge aus dem Manuskript Gegend erhielt sie 2004 das Leipziger Literaturstipendium und 2005 das Prosawerkstatt-Stipendium der Jürgen Ponto-Stiftung.

Gegend, Nora Bossong, Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, September 2006
ISBN-10:3-627-00136-2, ISBN-13:978-3-627-00136-0, gebunden, 128 Seiten, Euro 16,90

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