Der kretische Gast. Roman.
Klaus Modick, Eichborn 2003




Kreta und die Deutschen

"Die Schweinerei", sagt Lübtow, als Johann ihm von seinem Besuch bei Stöver erzählt, "die Schweinerei, die Sie auf Kreta treiben sollen, rettet Ihnen wahrscheinlich das Leben. Aber Ihre Seele müssen Sie schon selber retten."
1942, die deutschen Armeen gehen erstmals Niederlagen entgegen und Professor Lübtow kann seine Assistenten nicht mehr vor dem Gestellungsbefehl schützen. Bisher ist ihm das gelungen, seine archäologischen Arbeiten hat er mit bemerkenswertem Geschick den Nazis verkaufen können, seine Hühnengräber bewiesen die angeborene Führertreue der nordischen Menschen. Doch jetzt sind zwei seiner Assistenten bereits an der Front, einer davon vermisst und Johann, den dritten, soll ein kunsthistorischer Auftrag in Kreta vor der Wehrmacht retten, ein Auftrag, der von höchster Stelle kommt. Kreta und seine minoische Kultur ist schließlich urgermanisch und die entsprechenden Kunstschätze wollen katalogisiert werden. Kreta scheint sicherer als die Ostfront, sicherer auch als Deutschland, das immer mehr von britischen Bombergeschwadern heimgesucht wird.
Professor Lübtow ist kein Nazi, aber ein Mitläufer, der veröffentlich, was die Nazis hören wollen. Auch Johann ist kein Nazi, aber Parteimitglied. Beide wollen ihren Kopf retten, aber sich die Hände nicht schmutzig machen.
Auf Kreta wird Johann ein Leutnant Hollbach zugeteilt, auch der kein Nazi, auch der ein Mitläufer. Deutsch-kretische kulturelle Zusammenarbeit, so wird Johanns Aufgabe offiziell verkauft, das gefällt auch den Kretern, die stolz auf ihre Vergangenheit sind. Johann soll Kunstschätze katalogisieren, Leutnant Hollbach sie - was niemand wissen darf - anschließend konfiszieren und heim ins Reich schaffen. Aber, sagt Hollbach, "katalogisieren können Sie natürlich nur, was Sie zu Gesicht bekommen und was Sie fotografieren. [...] Und was mich betrifft, ich kann nur konfiszieren und deponieren, was Sie fotografiert und katalogisiert haben."
Wegschauen scheint die Alternative zu sein, wegschauen, um den eigenen Kopf zu retten und sich die Finger nicht schmutzig machen.
Johann wird ein kretischer Fahrer zugeteilt, Andreas, mit ihm erkundet er Kreta und zu Ostern lädt Andreas ihn in sein Heimatdorf ein, dort mit der ganzen Sippe Ostern zu feiern. Die überströmende Gastfreundschaft überwältigt Johann, der erst vor kurzem bei einem Bombenangriff seine Eltern und seine Verlobte verloren hat. Und er verliebt sich in Andreas jüngste Tochter.
Dann erfährt er, dass die Deutschen als "Vergeltung" für einen Partisanenüberfall dieses Dorf dem Erdboden gleich machen wollen. Wegschauen und sich die Hände nicht schmutzig machen, geht nicht mehr. Johann warnt Andreas. Hollbach deckt Johanns Verrat auf und ein Thriller beginnt. Nur dass hier die Nazis nicht deshalb die Bösewichte sind, weil ein Thriller eben Böse braucht wie ein Auto Benzin. Nazis, echte Nazis treten in dem Roman sowieso kaum auf, Mitläufer um so mehr. Das hebt den kretischen Gast wohltuend von gängigen Thrillern ab.
Auf einer zweiten Handlungsebene agiert 1975 Lukas, Student im Examen, der auf einem Flohmarkt Photos sieht, die ihn an die erinnern, die sein Vater früher verbrannt hat. Wie die meisten Väter der Kriegsgeneration will Lukas' Vater nicht über den Krieg reden. Lukas kauft die Photos samt Rahmen und auf der Rückseite des einen entdeckt er eine griechische Notiz. Die scheint sinnlos, lässt ihn aber nicht mehr los und im Urlaub auf Kreta macht er sich auf, das Rätsel zu lösen.
Klaus Modick beschreibt Kreter und Deutsche, deren Taten wie Untaten und lässt diese Zeit vor dem Leser aufleben, die Konflikte, Verbrechen, die Täter wie die Opfer und manchmal weiss der Leser nicht genau, wer zu welcher Gruppe gehört. Die meisten sind Mitläufer, die mitmachen, ohne daran zu glauben, um den Kopf zu retten, um gefallene Kameraden zu rächen, der Karriere willen oder weil sie Befehlen gehorchen wollen.
Doch das Buch ist nicht nur Zeitgeschichte und Thriller, es ist auch eine Liebeserklärung an Kreta und die Kreter. Der Leser sieht die Landschaft, riecht sie, schmeckt sie, die Personen werden lebendig und selbst wer nie in Kreta war, glaubt es nach der Lektüre erlebt zu haben.
Aber es hat auch Mängel. Der größte heißt Hollbach, der am Anfang differenziert und lebendig dargestellt wird, aber im Laufe der Ereignisse immer mehr zum Pappkameraden wird. Vielleicht, weil der Autor dem Leser keinen menschlichen Verbrecher zumuten wollte? Wohlgemerkt, ich trete nicht dafür ein, Verbrechen zu verharmlosen - auch die Täter waren nur Menschen -, wohl aber dafür, zu zeigen, wie aus normalen Menschen Verbrecher werden.
Und auch die zweite Handlungsebene mit Lukas und seinem Vater, der Auseinandersetzung über den Krieg, der Vater, der nicht reden will, der Sohn, der genau das wissen will, was der Vater nicht erzählen mag, auch diesem Handlungsstrang bleibt blaß. So läßt auch die Verbindung beider Handlungsebenen - in gut Neudeutsch "Braiding" genannt - zu wünschen übrig. Da hätte der Autor, der immerhin die Siebziger selbst erlebt hat, einiges tun können, das Buch noch besser zu machen.
Doch das ändert nichts daran, dass der kretische Gast ein zeitgeschichtlicher Roman mit Thrillerelementen ist, der sich leicht und spannend liest, ohne seicht zu sein, genauso für den sonnigen Strand in Heraklion geeignet wie für Regentage in Deutschland.

Der Autor Klaus Modick ist 1951 in Oldenburg geboren, promovierter Literaturwissenschaftler und hat schon zahlreiche Bücher veröffentlicht, unter anderem "September Song", "Der Flügel" und "Vierundzwanzig Türen".

Klaus Modick, Der kretische Gast
Gebundene Ausgabe - 455 Seiten - Eichborn
Erscheinungsdatum: Juli 2003
ISBN: 3821809299
Preis: EUR 24,90

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