Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20.4.-22.6.1945
Anonyma, Eichborn Verlag 2003



Zwangsverkehr

"Ganz klar, hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu habe ich meinen Grips [...] Ich legte mir Sätze zurecht, mit denen ich einen Offizier ansprechen könnte, überlegte, ob ich nicht zu grün und elend aussähe, um zu gefallen. Fühlte mich körperlich wieder besser, nun, da ich [...] nicht mehr nur stumme Beute war."
Eine Frau erlebt die letzten Kriegstage, die ersten Besatzungstage in Berlin. Die letzten amerikanischen Bombenteppiche, die einziehenden Russen und wie ein Grauen das andere ablöst. Denn sehr bald sind Frauen Freiwild. Viele reagieren mit Galgenhumor: "Besser ein Russki auf dem Bauch als ein Ami auf'm Kopf". Zwar gibt es einen Ukas von Stalin, der Vergewaltigung verbietet, mit der Todesstrafe bedroht, doch jetzt, wo der Krieg aus ist, die Deutschen besiegt, scheint sich keiner mehr dafür zu interessieren.
Die stereotype Frage von Frauen, die sich länger nicht gesehen haben, lautet: "Wie oft?" Alte wie junge Frauen werden in Ecken gedrängt, im Flur vergewaltigt, als wollten die Russen die Nazipropaganda nachträglich wahrmachen von den slawischen Untermenschen.
Doch es gibt auch andere Beispiele. Oft kramen Russen Photos von daheim hervor, schleppen Lebensmittel in die Wohnungen, sobald eine Frau ihnen auch nur zulächelt und viele Frauen nehmen sich russische Liebhaber. Als Schutz und um zu überleben, denn es dauert, bis es wieder was zu Essen gibt und auch dann ist es lächerlich wenig. "Essen anschlafen" heißt das Gebot der Stunde, die Klinik nennt die Vergewaltigungen "Zwangsverkehr".
"Es lässt sich keinesfalls behaupten, dass der Major mich vergewaltigt. Ich glaube, ein einziges kaltes Wort von mir genügt, und er geht und kommt nicht mehr. Also bin ich ihm freiwillig zu Diensten. Tue ich es aus Sympathie, aus Liebesbedürfnis? Da sei Gott vor. Einstweilen hängen mir sämtliche Mannsbilder mitsamt ihren männlichen Wünschen zum Hals heraus [...] Tue ich es für Speck, Butter, Zucker, Kerzen, Büchsenfleisch? Ein wenig bestimmt. [...] Womit ich die Frage aber noch nicht beantwortet habe, ob ich mich nun als Dirne bezeichnen muss, da ich ja praktisch von meinem Körper lebe."
Was ist es, dass aus Menschen Wölfe macht, aus Soldaten Vergewaltiger? Denn "die Unseren werden es nicht anders gemacht haben", sagt eine Frau. Die Wohnungen werden auch von Deutschen wie Russen geplündert, leergeräumt. Wer "das Boot" gelesen hat, weiß, wie sich die U-Boot Fahrer auf Urlaub aufführten, sich zusoffen, nicht anders als die Russen nach dem Krieg, wie sie herumgehurt haben. Aber die deutschen Marinesoldaten hatten Bordelle und Fronturlaub, die Russen nicht - so abgeschmackt es klingt, diese Behauptung, die niemand gerne hört. Jedenfalls scheint sich gerächt zu haben, dass anders als die Engländer und die Amerikaner die sowjetische Führung dieses Problem nicht wahrnahm, nicht wahrnehmen wollte, der neue, der "sozialistische" Mensch vergewaltigt nicht und Basta!
Vielleicht glaubten sie auch, nachdem der Krieg zu Ende sei, müsse man den Soldaten die Zügel mal lang lassen, sie sich austoben lassen (manche französische Einheit tat es den Russen nach); mancher wird auch gedacht haben, geschieht den Deutschen recht, nach allem, was sie verbrochen haben.
Vor jedem Mann hüten sich die Frauen, lassen keinen auf der Strasse aus den Augen, jeder bedeutet Gefahr. Und selbst Momente, die fast schon rührend sind, wenn der Major trotz Knieverletzung auf dem Tisch tanzt und mit einer einfachen Mundharmonika dazu mitreissende Melodien spielt, die russische Soldaten klatschen, selbst solche Momente der Freude über das Kriegsende können die Frauen nicht genießen. Zu tief sitzen die Verletzungen.
Das Thema ist lange tabu gewesen. Selbst die alten Nazis, die in den fünfziger, sechziger Jahren das dritte Reich und seine Verbrechen mit dem Bombenkrieg der Allierten rechtfertigen wollten - "das waren auch Kriegsverbrechen" - haben das Thema so gut wie nie aufgegriffen. Aus Scham, weil sie im Krieg ebenso ...?
Die Frauen jedenfalls haben darüber geschwiegen. Helke Sanders erzählt 1999 in "Befreier und Befreite" wie viele der interviewten Frauen ihr in den Neunzigern(!) sagten, sie würden mit ihr zum ersten Mal darüber sprechen, was damals geschehen sein. Auch in dem Tagebuch taucht dies auf: "Die Ältere [...] sagt, ihr sei alles egal gewesen - die Hauptsache sei jetzt, dass ihr Mann, wenn er mal von der Westfront wiederkomme, nichts davon erfahre."
Die Autorin hatte keine Hemmungen, es wenigstens ihrem Tagebuch anzuvertrauen. Aber ihr Freund reagiert empört, als er von den Geschehnissen erfährt, nicht empört über die Russen, sondern über seine Freundin; sagt: "Ihr seid schamlos wie die Hündinnen geworden, ihr alle miteinander hier im Haus. Merkt ihr das denn nicht? Es ist entsetzlich, mit euch umzugehen. Alle Maßstäbe sind euch abhanden gekommen." Kein Wunder, dass die Autorin das Tagebuch nur anonym veröffentlicht und auch dafür fast zehn Jahre braucht. Dieses Schweigen, diese nachträgliche Schuldzuweisung hat es den Frauen nicht leichter gemacht.
Im Nachwort von 1958 verteidigt der Herausgeber die Autorin, man dürfe ihr keine Vorwürfe machen, sie habe so handeln müssen. Heute mutet diese Diskussion fast gespenstisch an, in einer Zeit, in der jeder sein Sexualleben in Talkshows breittritt und ist es nicht interessant genug, erfindet man etwas dazu.
Jedenfalls liegen die Vergewaltigungen, die Prostitution aus Not - beschönigend "Fräuleinwunder" genannt - im und nach dem zweiten Weltkrieg noch immer im Dunkeln. Nicht nur die der Russen, auch die deutsche Wehrmacht, die Japaner und die anderen Armeen haben keine weiße Weste. Man kann nicht junge Männer jahrelang in Kommisstiefel stecken, durch die Weltgeschichte scheuchen, Kopf und Kragen riskieren lassen, sie jahrelang in Männerbünden halten und erwarten, dass sie sich anständig und ritterlich gegen Frauen verhalten. Das "soldatische Rittertum" ist leider ein schönes Märchen, nicht realer wie der neue, der sozialistische Mensch Stalins. Der Krieg macht im allgemeinen aus Menschen keine bessere Menschen, sonder verroht. Die Witwe und ihr Untermieter, bei der die Autorin unterkriechen kann, nimmt das Essen des Majors gerne von ihr an. Sobald der Major fort ist, kein Nachschub mehr kommt, schmeißt sie sie aus der Wohnung. Die Autorin erzählt es nüchtern, lakonisch, scheinbar ohne Gefühl, nicht anders als die Vergewaltigungen.
Doch nicht nur Vergewaltigungen ("Schändung" nennt es die Autorin) kennzeichnen das Leben in diesen Wochen. Der Wassermangel, stundenlang stehen die Frauen an der einzigen Pumpe und als die kaputtgeht, müssen sie verschmutztes Teichwasser holen, die Kartoffeln, als endlich welche ausgegeben werden, sind teilweise bereits in Gärung übergegangen, wer ein Fahrrad hat, ist reich und was für ein Glücksgefühl, als nach Wochen wieder Wasser aus Leitungen fließt, als es wieder Strom gibt statt Kerzen, als sie erstmals wieder in einer funktionierenden S-Bahn sitzt.
Es ist der Blick für das Detail, für den Widerspruch, der das Buch so lesenswert macht. Die gleichen Russen, die betrunken und des Nachts vergewaltigen, schätzen Intelligenz und Ausbildung bei einer Frau über alles. Anders als die deutschen Männer, denen gegenüber die Autorin ihr Licht oft unter den Scheffel stellen musste, um nicht "unweiblich" zu wirken. Die Kinderliebe der russischen (wie auch der anderen) Soldaten, manche Frau kann der Vergewaltigung entgehen, weil sie kleine Kinder hat. Die beiden Schwestern im dritten Stock, die einen lustiges Offiziersclub gegründet haben (wohl eher ein Offiziersbordell) haben einen kleinen Sohn, der von den Russen nach Kräften verwöhnt wird. Fast scheint es, als ob die Russen nach all den Kriegsjahren einfach ausflippen, ausflippen müssen, sich aber im Grunde nur nach einem sehnen: dass alles wieder normal werden möge. Was die Frage aufwirft, ob die sowjetische Armeeführung diese Massenvergewaltigungen nicht hätte verhindern können, wenn sie eine andere Politik gegenüber den eigenen Männern eingeschlagen hätte, wenn sie das Problem überhaupt wahrgenommen hätte. "Die zehn Minuten gehen schnell vorüber", sagen Offiziere oft, wenn sich Frauen hilfesuchend an sie wenden. Ob sie meinen, das sei harmlos gegen die Gräuel der Front; gegen das, was die Deutschen in Russland angerichtet haben; dass das vorübergeht, bald kehrt die Normalität wieder ein; dass es den Deutschen recht geschieht? Vermutlich von allem etwas.
So ist das Buch ein schonungsloses, präzises Zeitzeugnis vom Leben in den letzten Kriegs- und den ersten Friedenswochen.
Und die Diskussion, von der SZ angezettelt, ob das Buch "echt" sei oder von dem Autor Marek überarbeitet, scheint mir völlig daneben. Denn dass es ein "echtes" Bild des Frühlings 1945 entwirft, daran zweifelt keiner. Wen interessiert es da noch, ob die Autorin es selbst so geschrieben hat oder ob Marek es überarbeitete, lektorierte?

Über die Autorin: Die Autorin hat ihr Tagebuch 1946 dem Schriftsteller Kurt W. Marek (Pseudonym: C.W.Ceram) gezeigt. Es bedurfte aber viel Überredung, bis sie 1954 einer Veröffentlichung in Amerika und anderen Ländern zustimmte. Die deutsche Fassung konnte erst 58 erscheinen.

Anonyma, Eine Frau in Berlin, Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945
Eichborn, gebunden, 289 Seiten, ISBN: 3821847379, 19,90€

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