Die Detektivin. Historischer Kriminalroman.
Nikola Hahn, Ullstein Taschenbuch 2004


Unter der Knute der Etikette

"Darf ich Ihnen Hannes vorstellen?"
Richard Biddling schlug die angestaubte Akte zu, in der er gelesen hatte, und blickte zu Kriminalschutzmann Heiner Braun hoch, der einen dicklichen, etwa achtzehnjährigen Jungen mit wilden, braunen Locken ins Büro schob. "Guten Tag, Hannes", sagte er.
"Guten Tag, Herr Kommissar", erwiderte der Junge mit leicht näselnder Stimme und fixierte ihn mißtrauisch über den Rand seiner Augengläser hinweg. Richard lehnte sich zurück und schwieg.
Heiner schubste den Jungen näher zum Schreibtisch. "Na, nun berichte dem Herrn Kommissar, was du mir erzählt hast!"
"Ich wollte aber nur Ihnen ..."
"Ich habe dir erklärt, daß nicht ich diesen Fall bearbeite, sondern der Herr Kommissar." Heiner Braun sah seinen Vorgesetzten entschuldigend an.

1882 ist Frankfurt am Main Teil des deutschen Reichs, aber auch von Preußen besetzt. Die Frankfurter sind darüber alles andere als glücklich. Und dann wird Heiner Braun auch noch ein Preuße als Vorgesetzter vor die Nase gesetzt: Der Kommissar Richard Biddling. Der hat Grundsätze, er schwört auf Regeln, vorzugsweise auf die, die er aus Berlin mitbringt. Heiner Braun hat ganz andere Methoden, um die Wahrheit herauszufinden. Kein Wunder, dass beide heftig zusammenstoßen, als das Dienstmädchen Emilie plötzlich verschwindet. Der Kommissar glaubt, dass sie davongelaufen ist, sein Untergebener an ein Verbrechen.

Und die unkonventionelle Victoria Könitz, deren Leidenschaften Detektivgeschichten und kriminalistische Fachbücher sind, sieht eine Gelegenheit, ihre Spürnase an einem realen Kriminalfall zu erproben. Denn Emilie war das Dienstmädchen ihrer Tante.

Schicht um Schicht enthüllt die Autorin die Fassade der "guten Gesellschaft", die Tünche von Etikette und heiler Welt, in der Frauen mit Schiller am heimischen Herd züchtig walten - wenn sie nicht grade häkeln oder Klavierspielen. Und auch die Männer sind nicht halb so ehrbar, wie es die öffentliche Meinung vorgibt. Den Leser zieht es von der ersten Seite in dieses Frankfurt hinein, das ihm ebenso glaubhaft wie plastisch vorgestellt wird. Dazu erlebt er die Anfänge der Kriminalistik mit, die sich in dieser Zeit aus der normalen Polizeiarbeit heraus emanzipiert und zu einem eigenem Beruf wird.

Obendrein ist der Plot nicht nur glaubhaft, sondern voll von überraschenden Wendungen. Jede der Charaktere zeigt der Umgebung eine Fassade, die sich an der gängigen Moral orientiert, aber was dahinter steckt erfährt der Leser erst nach und nach.

Fazit: Spannender Krimi mit Zeit- und Lokalkolorit. Nicht nur für Krimifans unbedingt empfehlenswert.

Leseprobe
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Interviews mit der Autorin

Über die Autorin: Nikola Hahn wurde 1963 in Lixfeld bei Marburg geboren. 1984 begann sie eine Ausbildung bei der hessischen Polizei, seit 1990 ist sie bei Kriminalpolizei, seit 2004 Fachlehrerin an der hessischen Polizeischule.
Schon als Kind schrieb sie Geschichten, 1985 begann sie ein Fernstudium in Belletristik, Lyrik und Journalismus, schrieb Gedichte und Kurzgeschichten, war Redakteurin der Hessischen Polizeirundschau und einer Literaturzeitschrift.
"Die Detektivin" war ihr erster veröffentlichter Kriminalroman (1998), es folgten ein zeitgenössischer Roman (Die Wassermühle) und 2002 ein weiterer Krimi (Die Farbe von Kristall).
Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. und der Autorengruppe deutschsprachiger KriminalautorInnen "Syndikat". Außerdem schreibt sie für das Magazin über kreatives Schreiben "Textart" und beantwortet im Autorennewsletter tempest (www.autorenforum.de) als Kriminalistikexpertin Autorenfragen. Mit ihrem Mann lebt sie in Rödermark bei Offenbach.

Die Detektivin, Nikola Hahn, historischer Kriminalroman, 2004, Ullstein Taschenbuch
ISBN 3-548-26169-8, Taschenbuch, 528 Seiten, Euro 8,95

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