Chill mal, Frau Freitag. Aus dem Alltag einer unerschrockenen Lehrerin.
Frau Freitag, Ullstein 2011

Chill mal, Frau Freitag

„7. Klasse, Vertretungsunterricht. Ich lasse die Schüler was zeichnen. Ein Gruppentisch ist ziemlich laut. Ich höre mehrfach die arabischen Wörter »Chara« (Scheiße) und »Scharmuta« (Hure). Irgendwann reicht es mir. Ich stürze an den Tisch und schreie »Challas!« (Lass das). Die Jungen gucken mich verwirrt an. Ich sage: »Istrele!« (Arbeitet).
Keiner reagiert. »Was ist, verstehst du das nicht?«, frage ich einen von ihnen und gucke böse. »Ich kann kein Arabisch, ich bin Kurde.«
»Aber du«, wende ich mich an den Nächsten. »Du verstehst das doch.«
»Nee, ich bin aus Polen.«
Der Dritte war Türke, und dann saß an dem Tisch noch der Sohn einer thailändischen Mutter, der jedoch nur Deutsch sprach. Aber auf Arabisch fluchen, das geht. Wenn wir die Schüler nicht da abholen, wo  sie  sind, dann machen das eben die Mitschüler. Und irgendwie ist es doch auch schön, wenn sie was lernen. Wie könnte ich mich als Fremdsprachenlehrerin nicht dafür begeistern, wenn sich meine Schüler freiwillig mit anderen Kulturen auseinandersetzen?“

Frau Freitag schaut keine Actionthriller mehr, sie wartet nicht auf den Feierabend, damit etwas passiert. Muss sie auch nicht, denn sie ist Lehrerin an einer Gesamtschule und da hat sie Action genug und Spannung als kostenlose Dreingabe.

Darüber hat sie erst einen Blog geschrieben und daraus wurde ein ebenso vergnügliches wie lehrreiches Buch. Mit Ironie zieht sie über Schüler, Lehrer, den Schulalltag her und dem, was als "pädagogisches Maßnahmen" vorgeschlagen wird, aber leider oft meilenweit vom Schulalltag entfernt ist. Allein die gekonnte Darstellung des "Schülersprechs" ist die Lektüre wert.

Auch wer endlich mal wissen will, was im Lehrerzimmer wirklich vor sich geht und wie man Lieblingsschüler wird, wird hier fündig. Gar nicht so schwierig, es reicht schon, öfters mal im Unterricht vorbeikommen und sich für den Stoff interessieren. Seltsam, trotzdem bewirbt sich kaum einer für den Posten.

Immerhin, Multikulti funktioniert manchmal, das kann uns Frau Freitag stolz berichten. Vor allem bei Schimpfwörtern sind die Schüler sehr lernbegierig und bereit, auch Anregungen aus anderen Kulturkreisen aufzunehmen.

Über bildungsferne Schichten, Pisastudien, Bildungspolitik wurde und wird viel geredet. Hier erfahren wir witzig und warmherzig, aber auch ironisch und bissig, wie der Schulalltag wirklich ist. Vielleicht sollte man das Buch zur Pflichtlektüre von Bildungspolitikern machen? Schaden würde das sicher nicht.

Denn neben all Schülern, Lehrern und Eltern, die uns Frau Freitag so farbig und lebensecht schildert, zeigt sich auch, dass es wohl nicht die großen Konzepte sind, die die Schulen verbessern werden. Mal ehrlich, wer glaubt ernsthaft, dass eine neue Schulpolitik es schaffen würde, dass Schüler in der Pubertät pünktlich sind, den Lehrern jedes Wort vom Mund ablesen, mitschreiben, zur Klassenfahrt keinen Alkohol mitbringen, sich und die Lehrer nie beschimpfen oder sich gar prügeln? Ganz egal, ob es sich um urdeutsche oder solche "mit Migrationshintergrund" handelt?

Frau Freitag jedenfalls glaubt das nicht und sie weiß, wovon sie spricht. So befällt mich auch ernste Sorge nach dem Buch, wenn ich lese, dass jetzt das Durchfallen abgeschafft wird. Nicht, weil ich gerne Schüler durchfallen sehe, sondern weil es einfach ein Mittel ist, wenigstens etwas Interesse zum Schuljahresende bei den Schülern zu wecken. Und das Buch schafft es, dass mir all die Schüler ans Herz wachsen, die Frau Freitag da schildert, die Islam-Punkerin Samira, das Schlitzohr Abdul, der die Lehrerin ebenso wie seine Mutter immer aufs neue harten Geduldsproben unterwirft und all die anderen, die dafür sorgen, dass es mir beim Lesen nicht langweilig wird. Ihnen alle wünsche ich, dass sie dann doch noch etwas aus der Schule mitnehmen und nicht einfach in einem Hartz IV Schicksal untergehen. Deshalb hoffe ich, dass sich Bildungspolitiker doch noch mal mit der Realität statt mit großartigen neuen Konzepten beschäftigen mögen.

Einziger Kritikpunkt: Der Verlag hätte dem Buch ein Lektorat spendieren sollen, das vor allem in der Mitte den Text hätte straffen und kürzen sollen. Dort wiederholt es sich nämlich öfters.

Dennoch: Lesenswert!

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