Buick Rivera. Roman.
Miljenko Jergovic, Schöffling, März 2006
Schatten des Krieges
"Vuko Salipur war der Einzige, der in dieser Nacht auf der Straße unterwegs war, allerdings in der Gegenrichtung. Mit einem Geländewagen von Mercedes, Eigentum seiner Frau, die er am Nachmittag für immer verlassen hatte, 15000 Dollar in der Tasche und der Absicht, möglichst viele Meilen zwischen sich und Salem zu legen, bevor er das Auto und fünf Jahre seiner Vergangenheit unterwegs vor einem Bahnhof oder Flughafen abstellen würde. Er musste nur überlegen, wohin es gehen sollte, in welche Himmelsrichtung, und es gibt keine bessere Zeit als eine verschneite Nacht und keinen besseren Ort als einen Mercedes, um solche Fragen zu beantworten. Vor dem Krieg hatte Vuko für das Busunternehmen Lasta-Beograd auf der Linie Titovo Uzice-Sarajevo als Fahrer gearbeitet, fuhr anschließend sechzehn Monate lang einen Panzer T-55, dann gehörte ihm als Kommandant der Cajnice-Abteilung der serbischen Armee ein Jeep, den sie einem Basketballspieler aus Niksic weggenommen hatten."
Zwei Bosnier begegnen sich ausgerecht auf einer einsamen amerikanischen Straße in der Nacht. Hasans alter Buick Rivera, Baujahr 1963, seine einzige Liebe, liegt im Straßengraben und Vuko hält an und will ihm helfen, ihn herauszuziehen. Doch das gelingt nicht und Vuko fährt den Landsmann zu seiner Frau, einer erfolglosen Schauspielerin im Theater, die mit ihrem Engagement nicht nur sich, sondern auch Hasan ernährt. Dessen Träume von der Regie-Karriere, wegen der er vor 22 Jahren nach Amerika kam, sind nämlich längst ausgeträumt.
Vuko dagegen wollte keine Karriere machen, sondern seinen Kopf retten. Im Bosnienkrieg war er Offizier und muss nun fürchten, dass er wegen Kriegsverbrechen gesucht und verurteilt werden würde. In den USA geriert er sich als Opfer, als bosnisches Raubein vermag er die Amerikanerinnen zu becircen und eine heiratet ihn dann auch, verzeiht ihm alle Fehler und Grausamkeiten, weil sie es als "kulturelle Differenzen" versteht.
Hasan ist Muslim, aber Atheist. Im Gegensatz zu Vuko, dem Meister der Selbstdarstellung ist er ein introvertierter Mann, schüchtern, nicht fähig, sich durchzusetzen, nicht gegen Vuko, nicht gegen seine Frau. Und so nimmt eine aberwitzige Geschichte ihren Anfang, die eigentlich nur einen Tag dauert, in den der Autor aber die ganze Tragik der Exilanten aufleben lässt und uns zugleich einen Einblick in Bosnien vor und während des Krieges gibt. Rückblenden in die Kindheit, innere Monologe seiner Personen wechseln mit Abschnitten, in denen der Autor über Bosnien auktorial erzählt, wir die Stimme des Autors hören, mit Perspektiv- und Erzählwechseln, die eigentlich nie funktionieren, aber hier tun sie es doch und allein das würde das Buch schon lesenswert machen.
Dazu kommt schwarzer Humor, Witz, die eindrückliche Schilderung, wie Amerikaner und Deutsche - Hasans Frau kommt aus Bayern - sich den "Nationalcharakter" der Bosnier erklären, wie die Exilanten diese Bilder zu ihren Gunsten oder auch Ungunsten benutzen. Gängige Klischees und Wirklichkeit tanzen einen absurden Tango miteinander; detailreich, aber nie weitschweifig, stilistisch hervorragend geschrieben hat die Geschichte eine Sogwirkung, die den Leser bald mitreißt. Eines der wenigen Bücher, das man sofort zweimal lesen kann, wegen der Spannung, wegen der Tiefe, wegen der genauen Charakterschilderungen.
Vor einem sei gewarnt: Auch wenn ausführlich die Kindheit der beiden Männer geschildert wird, beide sind nicht "der" typische Muslim, "der" typische Serbe. Eigentlich ergibt sich das aus der Erzählung, aber dennoch wird das in Rezensionen immer wieder behauptet. Vuko wuchs bei einem sadistischen Vater auf, Hasan in einer fast idyllischen Familiensituation, auch das unterscheidet sie.
Eines der wichtigsten Bücher dieses Jahres, zu dem man nur eins sagen kann: Lesen, Lesen, Lesen!
Über den Autor: Miljenko Jergovic wurde 1966 in Sarajevo geboren und studierte dort auch Philosophie und Soziologie. Bereits als Jugendlicher wurde er kulturpolitischer Kolumnist, mit zwanzig bekam er eine eigene Sendung. Später berichtete u.a. für die Zagreber Wochenzeitung Nedeljna Dalmacija aus dem belagerten Sarajevo und war dort auch Redakteur beim Fernsehen. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Zagreb und ist als politischer Kolumnist für verschiedene kroatische und internationale Zeitungen tätig.
Buick Rivera, Miljenko Jergovic, Roman, Schöffling, März 2006
ISBN 3-89561-390-8, gebunden, 256 Seiten, Euro 19,90
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