Balzac und die kleine chinesische Schneiderin. Roman.
Dai Sijie, Piper 2003




"Mein Freund wird eine Sonate von Mozart spielen", verkündete Luo gelassen. Ich fragte mich erschrocken, ob er vielleicht übergeschnappt war. Seit ein paar Jahren waren in China sämtliche Werke Mozarts oder sonst eines westlichen Komponisten verboten [...]
"Mozart was?"
"Mozart ist mit seinen Gedanken immer beim Großen Vorsitzenden Mao", kam mir Luo zu Hilfe.

Zwei Jungen aus der Stadt werden zur "Umerziehung" in ein abgelegenes Dorf geschickt. Ihre Eltern sind bei den Maoisten in Ungnade gefallen. Die nächste Kreisstadt ist zwei Tagesmärsche entfernt; nicht nur von Mozart haben die Dörfler noch nie etwas gehört, auch vieles andere, das die Beiden mitbringen ist neu. Vor allem ihre Berichte über Filme, die sie gesehen haben. Niemand im Dorf war je im Kino, aber Luo erweist sich als genialer Erzähler und fesselt die Dörfler mit seiner Inszenierung eines nordkoreanischen Schmachtfetzens. Selbst der Dorfälteste ist gerührt und verfügt, dass die beiden jeden Monat vier Tage frei bekommen, um in die Kreisstadt zu gehen, sich den neuesten Film anzusehen und anschließend allen davon zu erzählen.

Von einem anderen Verbannten erben sie einen Koffer mit französischen Klassikern und jetzt haben sie Stoff genug für Erzählungen, mit denen sie die Dörfler unterhalten - und die kleine Schneiderin aus dem Nachbardorf, in die Lao sich unsterblich verliebt.

Ein Roman über die Kulturrevolution, ein Schelmenroman? Beides könnte dieses Buch sein, aber es ist nichts so richtig. Das erste Kapitel verschlingt der Leser noch, die Hoffnungen sind groß - aber sie werden enttäuscht. Balzac und die kleine chinesische Schneiderin können ihr Versprechen nicht einlösen. Nett zu lesen plätschern die Kapitel dahin, aber hinterlassen einen faden Geschmack. Über die Kulturrevolution erfährt man wenig (außer im ersten Kapitel) und auch die Streiche der beiden Helden sind nicht derart, dass sie im Gedächtnis bleiben würden.

Schade. Ein nettes Buch für den Urlaub, aber nicht mehr. Und ich begreife nicht, warum es in den Feuilletons so hochgelobt wurde. Vielleicht, weil mancher das Versprechen, das das erste Kapitel gibt, für bare Münze genommen hat? Die Amazon-Kundenrezensionen scheinen mir jedenfalls viel realistischer zu sein.

Dai Sijie, Balzac und die kleine chinesische Schneiderin
Broschiert - 208 Seiten - Piper
Erscheinungsdatum: Juli 2003
ISBN: 3492238696
€ 7,90 (broschiert), € 17,90 (gebunden)


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