Vom Atmen unter Wasser. Roman.
Lisa Dickreiter, Bloomsbury, August 2010

Vom Atmen unter Wasser

“Sagen Sie mir einfach, was passiert ist.“ Er schaut sie fest an. „Deswegen hat mein Vater sie doch auf mich angesetzt.“
„Dein Vater wollte nicht, dass du allein bist, wenn du`s erfährst.“
„Mir kommen die Tränen.“
„Er macht sich Sorgen um dich. Und deine Mutter braucht ihn jetzt.“
„Sagen Sie mir einfach, was passiert ist.“
„Sie haben deine Mutter gerade aus der Gefäßchirurgie gebracht.“ Sie zögert. „Sie hat ... Deine Mutter hat ...“ Sie bricht ab. Sucht seinen Blick.
Blöde Nuss, nun spuck’s endlich aus!
„Deine Mutter hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.“
Ihre Hand auf seinem Arm. Er will sie abschütteln, doch dann sieht er, wie sie ihn misstrauisch im Auge behält, als würde sie darauf warten, dass er zusammenbricht. Der arme Junge, jetzt auch noch das ... Aber den Gefallen wird er ihr nicht tun. Er erwidert ihren Blick so ruhig und so gefasst, wie er kann.
„Hat sie eine Plasmasteril-Infusion bekommen? Ist sie kreislaufstabil?“

Vor einem Jahr wurde Simons Schwester ermordet. Warum hat seine Mutter sich jetzt, nach einem Jahr, die Pulsadern aufgeschnitten?

Simon versteht das nicht. Und jetzt will auch noch sein Vater, dass er wieder zu Hause einzieht. Dabei studiert er, hat eine eigene Wohnung. Doch sein Vater möchte, dass jemand auf Mutter aufpasst. Wer weiß, was sie als nächstes tut.

Eine kleine Familie sind sie jetzt wieder. Doch keine glückliche. Denn zwischen ihnen steht immer noch Sarah. Unsichtbar, aber sie bestimmt alles. Denn die Mutter hat den Tod immer noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil, für sie ist Sarah jetzt erst recht präsent. Sei es durch den Geruch ihrer Kleider, sei es durch ihr Zimmer, in das sich die Mutter immer öfter flüchtet.

Lisa Dickreiter schildert das Psychogramm einer Familie, die immer stärker in den Sog der Toten gerät, darein, was diese getan hat, darein, dass die Mutter sich nicht lösen kann von dem toten Kind und immer mehr alle anderen Beziehungen davon zerstört werden. Die Mutter reagiert immer unverständlicher, die anderen können sie nicht auffangen und sprechen darüber kann erst recht keiner. Denn welche Sprach gäbe es, in der man über das reden kann, was keiner begreift?

Das Buch ist kein Pageturner, denn immer wieder legt man es aus der Hand. Zu bedrückend ist das, was die Autorin schildert. Und doch muss man immer wieder zum Buch greifen, um weiter zu lesen. Bedrohlicher als mancher Horrorroman ist das, was hier geschildert wird, unverständlich, kaum nachvollziehbar, wie hier eine Frau in der Trauer über ein totes Kind alle anderen lebenden Personen vergisst. Wer es nicht miterlebt hat, wie der Tod einer nahen Person alles verändert, kann es oft nicht nachvollziehen. Dabei ist der Tod der häufigste Grund für psychische Abstürze. Lisa Dickreiter lässt das mit sezierender Genauigkeit nacherleben, schier unerträglich ist das Buch oft, aber ebenso schwer, es nicht doch zu Ende zu lesen.

Gekonnt geschrieben, kriecht es in seine Figuren hinein und verstört den Leser durch die Nähe des Todes und dadurch, was der mit den Überlebenden macht. Keine einfache Kost.

Das einzige, was dem Buch fehlt, wäre vielleicht ein Nachwort. Denn was hier geschildert wird, ist nichts außergewöhnliches, auch wenn es manchem Leser vielleicht so erscheinen mag. Oft können Außenstehende gar nicht ermessen, was in denen vorgeht, die einen Menschen durch den Tod, gar durch einen Mord, verloren haben. Dass das oft über Jahre hinweg einschneidende Folgen hat, Personen verändert, so dass die anderen sie kaum wiedererkennen.

So entstand ein bestürzendes Psychodrama über den Tod und die Folgen für die, die zurückbleiben. Ein Buch über Sprachlosigkeit und darüber, das bestimmte Traumata oft gar nicht benannt werden können.

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