Angstblüte. Roman.
Martin Walser, rororo, Juli 2006


Kunstschickeria, Geld und Altwerden

"Diego sammelte unermüdlich Sätze, aus Büchern, die man für unsterblich hielt, weil sie drei- oder vierhundert Jahre überdauert hatten. Am liebsten stattete er sich mit Voltaire-Sätzen aus. Die eigneten sich dazu, eingerahmt und aufgehängt zu werden."

Karl von Kahn ist Anlageberater und selbstständig, Diego sein Freund und Tennispartner. Eigentlich heißt er ja Lambert, aber die dritte Ehefrau setzte den Namen Diego durch. Karl und Diego-Nicht-Mehr-Lambert haben eine kleine Tennisschlägerfirma gegründet. Beide leben in der Welt des Geldes.

Doch Diego fühlt sich, seit er in dritter Ehe mit der Talkmasterin Gundi verheiratet ist, mehr und mehr der Kunstszene zugehörig. Verkauft er nicht alte Möbel, Antiquitäten, Malereien? Und die Welt des schnöden Mammons muss der wahre Künstler verachten. Immer seltener trifft er sich mit Karl. Eines Tages ruft Gundi bei Karl an, Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus, kann nicht mehr sprechen. Und wollte doch die Tennisschlägerfirma verkaufen, die Verträge waren schon aufgesetzt. Wenn das publik wird, halbiert sich der Firmenwert. Also unterschreibt Karl die Verträge, ohne sie sich durchzulesen. Der Verkauf findet statt und Diego gesundet wunderbarerweise umgehend. Dass er die Firma für einen weit höheren Preis verkauft, als in den Verträgen angegeben, dürfte die Genesung nicht unwesentlich befördert haben, ahnt bald Karl von Kahn.

Er ahnt richtig. Diego, der Künstler, war in Geldschwierigkeiten. "Über Sexualität reden wir inzwischen, über Geld immer noch nicht."

Diego führt einen "Salon", den "Sängersaal", in dem er Kunden und Freunde versammelt. Wer in der Kunstschickeria Münchens Rang und Namen hat, verkehrt dort. Markus Luzius Babenberg zum Beispiel, bei dem nicht nur der Name an Hans Magnus Enzensberger erinnert. Ohne das Geld aus dem Betrug hätte Diego den Salon nicht fortführen können.

Karl von Kahn trifft der Betrug nicht finanziell, er ist auf der sicheren Seite; aber es kostet ihn den einzigen Freund. So kann es gehen. Siebzig plus ist er, so beschreibt er sein Alter. Abgeklärt sollte man da sein, weise und häuslich, das will er auch gerne sein, so möchte er sich sehen. Hat er nicht eine reizende Frau, Fachfrau für Ehefragen?

Die Kunstszene-Ambitionen Diegos lassen ihn kalt, er ist zufrieden, wenn er vom Geld was versteht, seinen Kunden Zins und Zinseszins und sichere Ertragssteigerungen bieten kann. Die Ambitionen vieler Geldleute, die gebildet sein wollen, voll Minderwertigkeit und Neid auf die Kultur schauen, teilt er nicht. Bodenhaftung ist das, was ihn auszeichnet.

Obwohl auch ihm die Ehrfurcht vor Kunst nicht fremd ist. " Zuerst musste er die mit Frisbees gepflasterte Wand loben, das war klar. Sie erklärte ihm, dass es sich um Kunstwerke handelte. Und sofort spürte er einen erklärungsfeindlichen Respekt vor den bunten Dingern. Die Kulturszene weiß immer etwas, was du nicht wissen kannst."

Da wird ihm eine neue Anlage angeboten. Ein Filmprojekt. Skeptisch ist er, keiner derer, der für den Ruf eines "Mäzen" Millionen in den Münchener Kultursandkasten setzt. Trotzdem stimmt er einem Treffen zu. Der Regisseur bringt eine 33jährige Schauspielerin mit. Und die verdreht dem alternden von Kahn den Kopf, so dass er ins Filmprojekt einsteigt und im Bett von Jenny landet.

Martin Walser hat einen Roman geschrieben, der leichtfüßig daherkommt, mit beschwingtem, ironischen Unterton erzählt, über Geld und Kunst und die dazugehörende Münchener Schickeria. Stellenweise ist es ein Pageturner, der den Leser nicht mehr loslässt. Er suggeriert nicht Tiefe durch schwerfälligen Stil, selbst und gerade die inneren Monologe lesen sich leicht, amüsant. Die Welt des Geldes ist der Hintergrund, eine Welt, die in Romanen sonst eher stiefmütterlich behandelt wird, Geld ist etwas schmutziges, damit gibt sich ein Künstler, ein Autor eher ungern ab. Was soll man über Männer (Frauen gibt es in dieser Welt wenige) schreiben, die nur Zins und Zinseszins im Kopf haben?

Diese Verachtung der Kunstschickeria für die Geldleute, die sie gleichwohl brauchen; diese Sehnsucht der Geldmanager, wenn sie in die Jahre gekommen sind, sich nicht nur einen Namen als Geldvermehrer, sondern auch als Wohltäter, Mäzen zu machen, das ist die Stärke von Walsers Roman. Da wünscht man sich: "Das darf doch nicht alles gewesen sein", da blüht trotzig "Ich will doch noch mal leben" auf, will man nachholen, was man - angeblich oder tatsächlich - versäumt hat. Ironisch schildert Walser das, aber auch liebevoll. Karl, der sich möglichst unbeobachtet auszieht, schnell ins Bett schlüpft, ängstlich bedacht ist, das Bein mit den Krampfadern zu verstecken. Dieser Karl weiß genau, was ihm da mit der jungen Jenny passiert, er ist kein Narr, er sieht den Abgrund, in den er stürzen wird, aber kann ihm doch nicht entkommen. Zum Schluss steht er allein, der Freund ist kein Freund mehr, die Fachfrau für Ehefragen weiß keine Antworten mehr und verlässt ihn ebenso wie die vierzig Jahre jüngere Schauspielerin.

Während wir immer älter werden, werden die Liebespaare, die Helden in den Geschichten immer jünger. Walser muss man hoch anrechnen, dass er sich einen Helden der ganz anderen Art ausgesucht hat, ein Thema, das gerne verdrängt, vergessen wird.

An manchen Stellen aber hätte dem Buch ein Lektor, ein Rotstift nicht geschadet. Da ist der endlos lange Abschiedsbrief des Bruders, der für die Geschichte - zumindest in dieser Ausführlichkeit - nur wenig Bedeutung hat. Das ebenso langatmige Filmtreatment, anfänglich gut, später ausufernd. Und zwei peinliche Szenen, der Vater der Schaupielerin Jenny ist Polizeireporter, plötzlich prasseln Morde auf ihn ein, alle von Ausländern begangen, weil er darüber schreibt, wird er von seinem 68-er Chef gemobbt, entlassen, führt endlose Prozesse, schlägt jetzt seine Frau, landet in der geschlossenen Psychiatrie und das alles auf drei Seiten. Da hat jemand alle Hunde der Kolportage losgelassen, diese drei Seiten mit ihren massierten Schicksalsschlägen lesen sich wie der Text eines Anfängers im ersten Schreibworkshop. Und gleiches gilt auch für den Herrn Schertenleib, der wegen eines Weihnachtsstreits mit seiner Tochter über den Krieg und den gefallenen Bruder nicht nur die Beziehung abbricht, sondern auch gleich auswandern will. Walsers 68er Vergangenheit, von der er sich lossagen will, spricht hier deutlich im Text und der Versuch, diese Vergangenheit mundtot zu machen.

Doch all das ändert nichts daran, dass ihm ein wichtiger, ein guter Roman gelungen ist, der Leichtigkeit mit Tiefe vereint, einer der Texte, den man gleich ein zweites Mal lesen möchte und kann.

Fazit: Walser hat einen Roman geschrieben, der nicht nur den Leser fesselt, sondern auch in Geld- und Kunstszene einführt - und in das Alter.

Leseprobe

Über den Autor: Martin Walser wurde 1927 in Wasserburg geboren, besuchte in Lindau die Oberschule, wurde als Flakhelfer eingezogen und später Soldat der Wehrmacht. Nach dem Krieg legte er in Lindau das Abitur ab und studierte in Regensburg und Tübingen Literatur, Geschichte und Philosophie. 1951 promovierte er über Franz Kafka. Er arbeitete als Reporter für den SDR, schrieb Hörspiele und gehörte zur Gruppe 47. 1957 erschien sein erster Roman "Ehen in Philippsburg", der ein großer Erfolg wurde. Von da an lebte er mit seiner Familie am Bodensee.
In den sechziger Jahren setzte er sich für die Wahl Willy Brandts ein, später engagierte er sich gegen den Vietnamkrieg und galt als "Linker".
1998 wurde ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen, er hielt eine Rede, in der er sich über "Instrumentalisierung des Holocaust" beklagte. Das führte zu einer heftigen öffentlichen Debatte, die sich verschärfte, als er bei einer Klausurtagung der CSU auftrat und in dem Roman "Tod eines Kritikers" angeblich antisemitische Töne anschlug.
Martin Walser ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und des PEN.
Er lebt in Überlingen am Bodensee.

Angstblüte, Martin Walser, Roman, rororo, Juli 2006
ISBN-10: 3498073575, ISBN-13: 978-3498073572, gebunden, 477 Seiten, Euro 22,90

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