Nacht über Algier. Roman.
Yasmina Khadra, Aufbau, 2006

Ein Traum zerbricht

»Seit einer ganzen Weile beobachte ich, wie Lino seinem Spiegelbild in der Toilette schöne Augen macht. Er betrachtet sich von allen Seiten, zupft sich hier ein Härchen aus, kontrolliert, ob seine Jacke richtig sitzt, und ist so fasziniert von seinen olympischen Körpermaßen, daß er mich überhaupt nicht bemerkt. Der Sache langsam überdrüssig, stelle ich mich heimlich hinter ihn und gurre ihm in den Nacken: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der dümmste Bulle im ganzen Land?"«

1988, Algier ist ruhig und alle langweilen sich in der Mordkommission von Kommissar Llob. Doch die Ruhe trügt. Noch herrscht in Algerien das Einparteiensystem, der "arabische Sozialismus", der von dem Ruhm des Befreiungskrieges gegen die Franzosen zehrt.

Aber der ist längst hohl geworden, die Revolutionäre von damals, jetzt satt und reich geworden, bilden eine eigene Herrschaftskaste. Darunter so mancher, der es verstand, den Glanz aus früheren Jahren zu versilbern, während das Volk verelendet, nur noch wenige Stunden am Tag Wasser fließt und auch der Strom fast schon zu einem Luxusgut wurde.

Da bandelt ausgerechnet Llobs Assistent Lino mit der Geliebten des allmächtigen Haj Thobanes an. Als der Chauffeur Thobanes mit Linos Pistole erschossen wird, ist allen klar: Lino war der Täter, ein Racheakt, ein Mord aus Leidenschaft. Doch Llob glaubt nicht daran, aber wie soll er das beweisen? Lino hat kein Alibi, war zur Tatzeit stockbesoffen und hat obendrein noch seine Pistole "verloren" - jeder hält diese Aussage für den Versuch, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Da taucht die attraktive Historikerin Soria Karadach auf. Sie untersucht die Ereignisse von 1962/63, als nach dem Abzug der Franzosen deren Handlanger überall gejagt und ermordet wurden. Damals war Thobane Militärchef auf dem Land und bald finden Llob und Soria heraus, dass der Mord eng mit dieser Vergangenheit verbunden ist.

Doch Llob war selbst einer der Aufständischen und wer die Guerilla beleidigt, der beleidigt ihn. Keine gute Ausgangsposition, um in dem Geflecht von Lügen, Geschichtsfälschungen und bedrohten Zeugen die Wahrheit zu erfahren.

Khadra hat einen Krimi geschrieben, der Algeriens Geschichte von dem Unabhängigkeitskrieg 1954/62 bis hin zum Ende der Herrschaft des "arabischen Sozialismus" spannt. Die Tragödie eines Landes zwischen Moderne und Vergangenheit, zwischen Kolonialismus und westlicher Elite verknüpft sich mit einem Mordfall, in dem immer wieder neue Aspekte auftauchen, nichts sicher scheint, in dem sich am Horizont bereits der islamistische Bürgerkrieg abzeichnet, der aus diesem System wenige Jahre später geboren werden wird und Algerien in ein neues Blutbad stürzt.

So entstand nicht nur ein spannendes, sondern auch ein lehrreiches Buch. Schade nur, dass der Verlag zwar ein dreiseitiges Glossar, aber keinen Abriss der Geschichte Algeriens beigefügt hat. Manches bleibt dem Leser so verschlossen.

Am Anfang geraten die Figuren ein wenig arg schematisch, der bärbeißige Kommissar, Macho, aber ehrlich bis auf die Knochen, steht den Größen der Macht gegenüber, die durch die Bank korrupt und verdorben sind - erst später löst sich dieses Schema ein wenig auf. Aber vielleicht sind in einem solchen System die Mächtigen wirklich nur Schemata, austauschbar, Klone, alle nach dem gleichen Muster gestrickt?

Fazit: Yasmina Khadra vereint in "Nacht über Algier" einmal mehr spannende Unterhaltung mit eindrücklicher Geschichtsdarstellung.

Über den Autor: Yasmina Khadra ist das Pseudonym des algerischen Offiziers Mohammed Moulessehoul, der 1955 geboren wurde und unter dem Vornamen seiner Frau Bücher schrieb, darunter die Krimis um den Kommissar Llob, mit dem er auch in Deutschland bekannt wurde. 2001 flüchtete er nach Frankreich ins Exil. Sein Roman über den islamistischen Bürgerkrieg in Algerien "Wovon die Wölfe träumen" erreichte die Spiegel Bestsellerliste.

Nacht über Algier, Yasmina Khadra, Roman, Aufbau, 2006
Originaltitel: La Part du Mort, aus dem Französischen von Frauke Rother
ISBN 10: 3-351-03064-9, ISBN 13: 978-3-351-03064-3, gebunden, 402 Seiten, Euro 19,90

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