Abby Lynn. Verbannt ans Ende der Welt. Historischer Jugendroman ab 12.
Rainer M. Schröder, cbj, August 2004


Verbannt ans Ende der Welt

"Ein eisiger Windstoß blies durch die Fensterfugen der Dachkammer. Die Kerze auf dem Küchentisch flackerte, beugte sich unter dem frostigen Hauch des Februarmorgens und erlosch. Ein dünner Rauchfaden kräuselte vom kohleschwarzen Docht, wurde von der Zugluft erfasst und verwirbelt, bevor er noch die niedrige Decke der armseligen Dachgeschosswohnung erreicht hatte.
Das dunkelblonde Mädchen mit dem blassen Gesicht saß gedankenverloren am Küchentisch und beobachtete, wie das flüssige Wachs um den Docht schnell erkaltete und sich auf der Oberfläche eine erste dünne Schicht bildete. Wie die Haut, die auf heißer Milch schwimmt.
Heiße Milch!
Abigail Lynn versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal heiße Milch getrunken hatte."

Wir schreiben das Jahr 1804 und die sechzehnjährige Abby Lynn wird verhaftet. Wegen eines Taschendiebstahl, den sie nicht begangen hat. Monatelang sitzt sie in dem berüchtigten Gefägnis Newgate in London, mitten im Winter kein angenehmer Aufenthaltsort und vor allem kein gesunder. Jeden Tag werden die Leichen fortgekarrt, die die Nacht nicht überstanden haben.

Erst ist sie verzweifelt, dann aber schwört sie sich (und ihrer toten Mutter): Was immer auch kommen mag, ich werde alles versuchen, um das zu überstehen.

Nach monatelangem Warten kommt endlich die ersehnte Gerichtsverhandlung. Doch niemand glaubt ihrer Aussage, die Indizien und die Zeugenaussagen sprechen gegen sie. Sie erhält sieben Jahre Sträflingsarbeit in der grade gegründeten Kolonie Australien. Allein die Überfahrt dauert Monate und das Buch schildert uns sehr realistisch, was eine Schifffahrt um 1800 bedeutete, insbesondere für Sträflinge, die nur einmal am Tag eine Stunde an Deck durften. Der Gestank, die Enge und ohne wirksame Medikamente konnte schon eine fiebrige Erkältung den Tod bedeuten. Hinzu kommt der Kampf zwischen den Sträflingen, von denen einige keinerlei Hemmungen haben, die anderen zu bestehlen. Abby muss sich in dieser Hölle behaupten und dann wird auch noch ihre Freundin Rachel schwer krank ...

Doch Abby Lynn gibt nicht auf und will und sich auch in den schlimmsten Szenen ihre Menschlichkeit bewahrt.

Ein historischer Roman, ein wenig Dickens, ein wenig Gerstäcker und viel Spannung. Manchmal (vor allem am Anfang) ist es ein bisschen holprig formuliert, einige Dialoge klingen nicht sehr glaubwürdig - würden abgebrühte Verbrecher in so ausformulierten Sätzen reden? Doch das sind Peanuts, denn der Spannung tut es keinen Abbruch. Als Sahnehäubchen erleben wir, dass es auch in Australien von 1808 eine Mafia gab - die freilich aus britischen Offizieren bestand.

Fazit: historischer Jugendroman, den Erwachsene wie Jugendliche verschlingen werden. Mit einigem Hintergrundwissen zur englischen Justiz um 1800, der Geschichte Australiens und einer sehr anschaulichen Schilderung, was Seereisen um 1800 bedeuteten.

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Über den Autor: Rainer M. Schröder wurde 1951 in Rostock geboren, wuchs in Ostberlin auf und floh kurz vor dem Mauerbau in den Westen. Er studierte Jura, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und hat eine dreijährige Operngesangsausbildung. Mehrere Jahre arbeitete er als Lokalreporter und als Verlagslektor.
Seit 1977 ist er freischaffender Schriftsteller. Er hat zahlreiche Jugendbücher geschrieben, aber auch historische Romane geschrieben (Gesamtauflage 5,7 Millionen). Viele Abenteuerreisen führten ihn in alle Teile der Welt und auch darüber hat er zahlreiche Bücher geschrieben.
Für "Abby Lynn" erhielt er den Friedrich Gerstäcker Preis, für "Das Geheimnis der weißen Mönche" den Eifel-Literatur-Preis, für "Das Geheimnis des Kartenmachers" den Literaturpreis der Mörser Jugendbuchjury. Mehrfach wurden Romane von ihm zum Buch des Monats gewählt.

Abby Lynn, Rainer M. Schröder, Jugendroman, August 2004, cbj
ISBN 3- 570-12848-2, kartoniert, 316 Seiten, Euro 10

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