Unterland. Jugendbuch.
Anne G. Voorhoeve, Ravensburger, Januar 2012

Unterland

»Sie standen noch an derselben Stelle, als wir aus der Schule zurückkamen – die Mutter in einen weiten blauen Umhang gehüllt, um sich gegen den Nieselregen zu schützen, der Sohn auf dem Rand des einzigen Koffers sitzend, den sie dabeihatten. So wie der Koffer sich bog, war fast nichts drarin, der Junge hockte keine dreißig Zentimeter über dem Boden. Er hatte die Nase in einem Buch, als ginge ihn das alles nichts an, aber als wir sie aus dem Küchenfenster beobachteten, stellten wir fest, dass er die Seiten nicht umblätterte. Eine dunkle Haartolle hing ihm ins Gesicht. Ich schätzte, dass er etwa in unserem Alter sein musste.
[...]
Sie hatten einen Quartierschein, alles war vollkommen korrekt.
Trotzdem verlangte Frau Kindler immer noch, dass Mem zum Bürgermeister ging, um zu protestieren. „Wie sind zu zwölf, ich habe drei Familien aufgenommen, drei Familien, was wollen die denn noch von mir?“ schallte es aus dem oberen Stock.«

Alice ist zwölf, lebt auf Helgoland und es ist Krieg. Helgoland soll wie alle Orten bis zum letzten Mann verteidigt werden. So wollen es die Nazis, obwohl jedem klar ist, dass der Krieg längst verloren ist und auch die Festung Helgoland daran nichts mehr ändern kann. Einige Helgoländer versuchen, die Insel kampflos an die Briten zu übergeben, doch der Versuch scheitert, diejenigen, die es versucht haben, werden erschossen und die Briten bombardieren die Insel. Danach steht kein Stein mehr auf dem anderen, die Helgoländer werden evakuiert und Alice landet mit Mutter, Oma und Bruder Henry in Hamburg.

Bald ist Frieden, doch der ist längst nicht so friedlich wie erhofft. In Hamburg steht kaum noch ein Stein auf dem anderen, ganz Europa hungert nach dem Krieg und die Versorgung muss überhaupt erst wieder aufgebaut werden. Essen gibt es auf Karten, aber die Rationen sind knapp und oft gibt es nicht mal die. Der Lehrer ist ein reaktivierter alter Mann, der nicht nur brutal ist, sondern öffentlich vor den Briten, den Tommies buckelt, aber den Schülern von deutscher Größe erzählt und dass die angeblichen Lager alles Erfindungen der Alliierten sind.

Sich in dieser Welt zurecht zu finden, ist schwierig. Über so viel wird nicht geredet, was war mit den Juden, will Alice wissen, als sie auf dem Schwarzmarkt einen jüdischen Händler trifft, aber genaues erfährt sie nicht. Und dann wird einer geheimnisvolle, stolze Frau samt Sohn ein Zimmer im Haus zugewiesen. Der Sohn profiliert sich auf dem Schwarzmarkt, Alice hilft mit, aber eigentlich will sie nur wieder zurück nach Helgoland. Doch das ist Sperrgebiet und schließlich wollen die Briten die Insel gar sprengen. Und da ist der geheimnisvolle Verräter, den Henry richten will, weil ...

Anne Vorhoeve hat einen Roman über zwei Nachkriegsjahre in Hamburg geschrieben, über Hunger, Schwarzmarkt und den Hass, den der Krieg zurückgelassen hat. Die Tommies, die den Deutschen nicht trauen, aber immerhin Schulspeisungen organisieren, die Deutschen, die die Tommies hassen, ein Jude, der alles verloren hat und alle hasst und die Geheimnisse, die jeder Erwachsene mit sich herumträgt. Nicht einfach für eine Zwölfjährige.

Ein Roman, der einfach die Zeit lebendig werden lässt, wie die Menschen damit umgehen und wie die Nazi-Herrschaft nachwirkt, im Hass, im Verbergen und mancher hat Hitler gar nicht gekannt. Ein Jugendbuch aber nicht nur für Jugendliche, spannend und lebendige Geschichte. Ein guter Nachfolger von „Einundzwanzigster Juli“ und „Liverpool Street“, für den die Autorin den angesehenen Buxtehuder Bullen bekam.

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