Todesengel. Thriller.
Andreas Eschbach, Bastei Lübbe, September 2013
Erich Sassbeck war bei den DDR Grenzschutztruppen. Er selbst hat auf keinen DDR Flüchtling geschossen, hat nicht schießen müssen. Stolz ist er auf seinen Job nicht, aber ein wenig Nostalgie auf die Zeiten, als Berlin noch weit friedlicher war, die hat er schon. Seine Schwiegertochter wirft ihm vor, er hätte keine Zivilcourage gehabt damals.
Und dann erlebt er eines Nachts in der Ubahn, wie zwei Jugendliche ihre Wut an einer Sitzbank auslassen. Er ermahnt sie und die beiden schlagen ihn zusammen und treten auf ihn ein, als er längst hilflos am Boden liegt. Das wars wohl, denkt er sich. Doch da erscheint eine leuchtende Gestalt mit zwei Pistolen und erschiesst seine Peiniger. "Wie ein Engel", schildert er es später der Polizei. Die glaubt ihm nicht, sondern ermittelt gegen ihn, weil sie glaubt, er habe die Notwehr überzogen. Dass der Bruder des Staatsanwalt an der Mauer von einem Grenzschützer erschossen wurde, stimmt ihn nicht milder.
Ingo Praise ist ein Loser, ein Journalist, der sich den Opfern von Gewalttaten widmet. Nicht unbedingt das, was Auflage bringt. Doch dann erfährt er, dass es noch weitere Fälle gibt, in denen die leuchtende Gestalt Schläger erschossen hat. DIe Polizei will es geheim halten, Praise veröffentlicht es und plötzlich ist er berühmt. Eine eigene Fernsehsendung erhält er, um Opfer von Gewalttaten vorzustellen, um Retter zu zeigen, die anschließend von der Polizei verfolgt wurden. Und der "Todesengel" erschießt weiter in Berlin Schläger, die Menschen zusammentreten.
Andreas Eschbach hat sich eines aktuellen Themas angenommen: Selbstjustiz, wenn die Justiz versagt. Und er spinnt seine Geschichte konsequent fort. Was geschieht mit den Opfern von brutalen Schlägern, was mit Kindern, die erleben, wie vor ihren Augen ein Erwachsener zu Tode getreten wird, der sie schützen wollte?
Und was würde passieren, wenn Menschen die Bestrafung der Täter selbst in die Hand nähmen?
Das Buch ist ein spannender Thriller, den man nicht aus der Hand legen kann - zumindest die ersten zwei Drittel. Im letzten Drittel flacht es ein wenig ab.
Aber es ist weit mehr, eben weil es sich mit dem beschäftigt, was in den Medien meist außer Acht bleibt, weil wenig auflagesteigernd: Den Opfern solcher Taten. Schon Hitler war lange Jahrzehnte faszinierender als die Opfer der Nazis.
"Todesengel" lässt einen ratlos zurück, voller Gedanken, einer der wenigen Thriller, der einen auch noch Tage später verfolgt. In den letzten Jahren gab es immer mehr spektakuläre Fälle brutalster Schläger. Steigt also die Kriminalität? Oder hat nur das Interesse der Medien zugenommen? Die über Ubahn-Schläger berichten, aber dem brutalen Mord an der Ex-Geliebten nur zehn Zeilen widmen? Was ist mit den immer strikter gefassten Regeln zur Notwehr, die dazu führen, dass jeder, der sich gegen Brutalos stellt, Opfer schützen will, nicht nur in Todesgefahr seitens der Schläger gerät, sondern auch mit einem Bein im Gefängnis steht? Das Buch der Jugendrichterin Kirsten Heisig Buch „Das Ende der Geduld“ fällt mir dazu ein. Die viel zu früh durch Selbstmord starb und sich dafür einsetzte, möglichst frühzeitig einzugreifen, Konsequenz zu zeigen und die Gerichtsverfahren nicht erst nach vielen Monaten zu beginnen. Betül Durmas' hat ihre Erfahrungen an einer Schule mit "sozial problematischen" Schülern niedergeschrieben in „Döner, Machos und Migranten“. Und ist es tatsächlich die schlimme Kindheit, die solche Brutalos hervorbringt? Schließlich gibt es jede Menge Menschen, die trotz schlimmer Kindheit nicht zum Totschläger wurden. Andererseits: Kaum einer der Brutalos blickt auf eine schöne, liebevolle Kindheit zurück.
Und was ist mit all den Tätern, die im dritten Reich zu zig-tausenden allerbrutalste Taten begannen, die keinen Vergleich mit heutigen U-Bahnschlägern scheuen müssen? Darunter tausende liebevolle Familienväter mit glücklicher Kindheit? Hat der Mordermittler Josef Wilfing recht, der sagt: Jeder kann zum Mörder werden (Unheil: Warum jeder zum Mörder werden kann)?
Ist es Ihnen aufgefallen? Auch ich habe mich in meinen Überlegungen vornehmlich den Tätern gewidmet. Das scheint tatsächlich eine typisch menschliche Eigenschaft zu sein: Wir interessieren uns mehr für die Täter als für die Opfer.
Todesengel ist auf jeden Fall spannender Thriller, aber auch ein Buch, das lange nachwirkt. Weil es soviele Fragen aufwirft und ein Spiegelbild unserer Mediengesellschaft liefert. Nicht zuletzt, weil es auch zeigt, welche Folgen Selbstjustiz haben kann.
Das Buch bei Amazon
Weitere Rezensionen von Hans Peter Röntgen