1000 Peitschenhiebe. Essays.
Raif Badawi, Ullstein, März 2015

1000 Peitschenhiebe

»Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, eine neue Lesart des Liberalismus in Saudi-Arabien zu finden und meinen Teil zur Aufklärung meiner Gesellschaft beizutragen. Ich habe versucht, die Mauern der Unwissenheit niederzureißen, die Heiligkeit des Klerus zu brechen, ein wenig Pluralismus zu verbreiten und Respekt vor Werten wie Ausdrucksfreiheit, Frauenrechten und den Rechten von Minderheiten und Mittellosen in Saudi-Arabien.
Das war mein Leben, bevor ich im Jahre 2012 verhaftet und mit Personen, die man aufgrund der verschiedensten Kriminaldelikte festgenommen hatte, zusammengeworfen wurde«

Raif Badawi ist zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden, zu 1.000 Peitschenhieben und zur Zahlung von umgerechnet ca. 200.000 € verurteilt worden. In Saudi-Arabien, weil er „den Islam beleidigt habe“. Auf Beleidigung des Islams stehen in muslimischen Staaten schwere Strafen, in einigen dieser Staaten kann man deshalb zum Tode verurteilt werden. Gleichermaßen gefährlich ist der Abfall vom Glauben, deshalb wurde er im ersten Prozess verurteilt.

„Beleidigung des Islams“ ist der Paragraf, der den Hardcore-Muslimen erlaubt, jegliche Kritik zu unterdrücken und ihre Ideologie als die einzige Interpretation des Korans und des wahren Glaubens darzustellen. Wer der Beleidigung des Islams schuldig ist, kann auch ganz ohne Prozess ermordet werden. Das widerfuhr den Zeichnern von Charlie Hebdo, deren Mördern aus den Banlieus von Paris stammten, aber indoktriniert wurden von salafistischen Theologen aus Saudi-Arabien und dem islamischen Staat.

Gerne nehmen wir in Europa an, dass der islamische Staat und seine Theologie nicht „der wahre Islam“ sei, dass er von jungen Männern vertreten werde, die in Problemvierteln ohne Zukunftsaussichten aufwachsen und der Hass sei nur eine Reaktion auf ihre Marginalisierung.

Dieses schmale Büchlein erinnert uns daran, was für eine Fehleinschätzung das ist. Diese Theologie ist die offizielle Koranlesart der Theologen, die im Zentrum der Macht sitzen, in einem der reichsten Länder der Welt und ganz und gar nicht sind sie marginaliert. Auch ist ihre Koranauslegung nicht nur eine abseitige Theorie einiger Spinner, es ist heute die offizielle Linie der meisten islamischen Staaten – und ganz besonders von Saudi-Arabien und dem Islamischen Staat (IS). Und diese Theologie bedroht nicht nur die westliche Welt – ganz im Gegenteil, sie bedroht vor allem die Muslime, die eine liberalere, eine menschlichere Lesart des Korans bevorzugen. Sie riskieren ihr Leben, wenn sie diese Meinung öffentlich kuntun. Die meisten der tausenden Opfer dieser Ideologie waren keine Europäer, sondern Muslime.

Das Bändchen ist nur ein Auszug aus Badawis Artikeln, einige sind verloren gegangen, andere zu speziell. Sie sind ein leidenschaftliche Bekenntnis zu Liberalität, zu Toleranz. Und so einfach sie auch geschrieben sind, so wirkungsvoll erinnern sie uns daran, dass „Meinungsfreiheit“ und „Toleranz“ keine Selbstverständlichkeiten sind.

Nicht immer war die saudische, die muslimische Welt so von Theokraten beherrscht wie heute. Badawis Großmutter erzählte ihm, dass es früher selbstverständlich war, dass Frauen und Männer gemeinsam arbeiteten – heute in Saudi-Arabien undenkbar. Dass es zur saudischen Buchmesse ausnahmsweise Frauen und Männer gemeinsam gehen durften, gilt schon als Ausgeburt westlicher Verworfenheit, die von den Theokraten heftigst angefeindet wurde. Die außerdem von jeder saudischen Studentin in Großbritannien verlangen, dass sie einen männlichen „Beschützer“ nachweisen müssten.

Die Bücher der muslimischen Ketzer werden natürlich nicht auf der saudischen Buchmesse ausgestellt, wer sie besitzt, sollte sie gut verstecken. Und natürlich werden in Deutschland wieder die aufschreien, die diesem Bändchen „Islamophobie“ vorwerfen werden – schließlich hätte er sich ja nicht so leidenschaftlich für Toleranz einsetzen müssen. Jeder weiß doch, dass das die Gefühle der Muslime verletzt. Hat nicht auch in Deutschland ein Muslim eine Anzeige wegen „Beleidigung des Islams“ gegen den Komiker Nuhr erstattet? Dass es vor allem die Gefühle der Hardcore-Islamisten beleidigt, wird gerne übersehen.

Solcher Denke lässt gerade jene Muslime und Araber (nicht jeder Araber ist Muslim!) im Regen stehen, die sich eine liberalere, tolerantere Gesellschaft erhoffen und ihr Leben riskieren, wenn sie das fordern. Und ich hoffe, dass Badawi möglichst viele Leser und noch mehr Unterstützer finden möge. Er hat es bitter nötig, die Muslime haben es bitter nötig – und wir anderen auch.

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