Neukölln ist überall. Sachbuch.
Heinz Buschkowsky, Ullstein 2012

Neukölln ist überall

Heinz Buschkowski ist Bürgermeister von Neukölln, dem berühmtesten »Problembezirk« Deutschlands. Und er packt aus, nimmt kein Blatt vor den Mund. Lebendig und sachlich schildert er die Probleme seines Bezirks. Dass es dort durchaus »bürgerliche« Viertel gibt, aber eben auch mit Nord-Neukölln Viertel, die immer mehr abrutschen, die sich immer mehr vom Rest der Republik abkoppeln. Kinder, die dort aufwachsen, haben miese Chancen, an den Schulen gibt es kaum mehr deutsche Kinder, die Kinder stammen aus Familien, in denen oft keiner mehr arbeitet und so setzt sich eine verhängnisvolle Spirale in Gang.

Die Deutschen ziehen weg, aber auch die Deutschtürken und alle anderen »mit Migrationshintergrund«, die es sich leisten können. Genau die, die eigentlich Vorbildfunktionen einnehmen könnten. Das Viertel sackt ab, die Arbeitslosenrate steigt, die Einnahmen sinken und viel weniger Kinder schaffen den Schulabschluss oder gar ein Abitur als anderswo. Heinz Buschkowski glaubt nicht, dass das an den Genen liegt oder weil Türken dümmer sind. Er schildert aber minutiös, welche Faktoren dazu führen, dass hier eine Parallelgesellschaft entsteht, mit eigenen Gesetzen, mit Wertvorstellungen, die sich sehr vom Rest der Republik unterscheiden.

Bildung sei das Wichtigste, um diesen Kreislauf aufzubrechen. Das ist nicht neu, das haben schon viele gesagt und geschrieben, aber der Neuköllner Bürgermeister kann es plastisch schildern. Ihm kommt es nicht auf theoretische Ergüsse an, er ist ein Praktiker, erzählt, was er und seine Leute tun, welche Steine ihnen die Politik oft in den Weg legen und was er sich an Vorgaben seitens der Politik wünschen würde.

Zum Beispiel eine Kindergartenpflicht, flächendeckende Ganztagesschulen und keine Herdprämie. Denn die Kinder in diesen Vierteln haben nur dann eine Chance, wenn sie früh die Sprache lernen, wenn sie möglichst früh die Bildung erhalten, die ihnen ihr Elternhaus nicht anbieten kann oder will. Interessant, dass Türken und Deutsche eine überraschende Gemeinsamkeit haben: Beide sprachen sich in Umfragen von Bild und Hürriyet in überwältigender Mehrheit für die Kindergartenpflicht aus, während die Politiker zögern und vielerorts die Kindergärten noch Geld kosten.

Und er möchte endlich auch Sanktionen für die, die sich nicht an die Regeln halten. Raser, die sich nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, müssen zahlen, Unternehmen, die Umweltauflagen missachten, werden bestraft. Jeder weiß, dass sonst so mancher Egoist (egal ob mit deutschem oder türkischem Gasfuß) durch die Innenstädte donnern würde, so manches Unternehmen seinen Dreck ins Abwasser leiten würde.
Warum soll es bei Eltern anders sein, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken?

In einer Rezension kann ich nur auszugsweise aufzählen, was er alles vorschlägt: Etwa, dass die Eltern das Zeugnis in Empfang nehmen müssen. Kein schlechter Vorschlag und sicher eine Möglichkeit, »bildungsferne« Eltern enger an die Schule zu binden.

Einige Vorschläge sind problematisch. Den Datenschutz aufweichen, damit Polizei, Schule und Sozialamt schneller und besser gewarnt werden, wenn eine Familie auffällig wird? Nicht jeder wird das Gutheißen, aber diskutieren sollte man es schon. Wieweit wollen wir gehen? In Holland wurden damit immerhin Erfolge erzielt.

Nein, Neukölln ist gottseidank nicht überall, wie der Titel suggeriert. Aber es gibt genügend Neuköllns, mehr als uns lieb sein kann. Auch sind »Parallelgesellschaften« nicht erst in den letzten Jahren entstanden, ausgerechnet die USA, die der Autor so lobt, haben bittere Erfahrungen damit machen müssen. Nur dass es in Amerika »Ghetto« heißt, dennoch ähnliche Entwicklungen aufweist, wie die in diesem Buch aufgezählten. Die Ghettoaufstände von Watts und anderswo zeigen, wohin die Fahrt gehen kann, wenn man nicht gegensteuert.

Das Buch liest sich leicht, überzeugend, Buschkowski ist kein Fanatiker wie Sarrazin, auch kein Rassist. Er schildert seine Erfahrungen, schlägt Lösungen vor. Manchmal stellt er sein eigenes Licht unter den Scheffel, das Buch enthält durchaus auch Erfolgsstorys. Etwas die von der Rütli-Schule, die sich von der bundesweiten Horrornachricht zu einem durchaus erfolgreichen Modell wandeln konnte.

Leseprobe
Interviews mit dem Autor: Die Welt + Cicero


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