Hennamond. Sachbuch.
Fatma B., Ullstein, Februar 2001

Hennamond

Fatma wächst in den Sechzigern in einem kurdischen Dorf in Ostanatolien auf. Kein fließendes Wasser, im Winter ist das Dorf durch den Schnee vom Rest der Welt abgeschnitten und auch im Sommer eine Fahrt in die nächste Stadt ein Abenteuer. Dazu die Brutalität, Kinder werden in der Schule nicht erzogen, sondern geschlagen, Frauen wegen der nichtigsten Gründe ebenfalls und sie erlebt die Steinigung einer Frau, weil sie angeblich fremd gegangen wäre. Arbeit beherrscht den Alltag der Familien, auch der Kinder, die mithelfen müssen und Schularbeiten gelten als unwichtig, Kinder sollen auf dem Feld arbeiten, sich nicht Flausen in den Kopf setzen lassen.

Und dann die Ehre. Sie ist das wichtigste, vor allem für die Frauen. Um die Ehre aufrechtzuerhalten, werden sie zwangsverheiratet; geschlagen, wenn sie irgendetwas tun, dass die "Ehre" gefährden könnte und beurteilt werden sie danach, wie sie sich den Männern unterordnen und arbeiten, arbeiten, arbeiten.

Dann geht ihre Mutter nach Deutschland, Fatma kommt zu einem Onkel, der das Kind als Dienstmagd ausnutzt, schikaniert und Geld und Kleidung, die die Mutter aus Deutschland schickt, an die eigenen Kinder verteilt.

Mit neun holt sie die Mutter nach Deutschland. Für Fatma eine völlig neue Kultur, eine Zeitmaschine hat sie aus dem Mittelalter in die Neuzeit befördert. Schon der erste Western im Fernsehen wirft die Frage auf, ob die Figuren dort nun lebendig sind und in Echt aufeinander schießen.

Fatma, die in ihrer Heimat bereits drei Schulklassen absolviert hat, muss in Deutschland wieder in der ersten Klasse anfangen. Ihre Sprachkenntnisse sind zu schlecht. Aber sie gewinnt eine Freundin, mit deren Hilfe sie sich mehr und mehr in Deutschland einlebt. Sie wird eine gute Schülerin, die Lehrerin stellt ihre eine Empfehlung für die Realschule aus, doch die Eltern lehnen das ab. Fatma soll eine gute Ehefrau werden, was nützen da Mathematik und Biologie. Im Gegenteil, sie sind gefährlich. Neumodisches Zeug, das nur die alten islamischen Werte gefährdet. Dabei hat keiner in der Familie den Koran gelesen. Mit zwölf soll sie ein Kopftuch tragen, doch das lehnt sie ab. Ihr Vater verprügelt sie brutal, aber sie setzt sich durch und verbrennt das Kopftuch.

Ihre erste Liebe, ein Cousin, wird in der Türkei mit einem Trick zwangsverheiratet, ihr selbst droht ebenfalls eine Ehe mit einem Fremden. Und sie beschließt, auszubrechen. Sie heiratet einen Deutschen, muss untertauchen, für ihre Familie hat sie unsägliche Schande gebracht und deswegen ist ihr Leben in Gefahr. Um frei zu sein, muss sie alle bisherigen Familienbindungen abstreifen. Auch die Familie ihres Mannes lehnt diese Ehe ab, allerdings bedroht sie nicht das Leben der unerwünschten Schwiegertochter. Fatma will ihrem Mann eine möglichst gute Frau sein, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab und verliert sich dabei fast selbst. Der Sprung in die Freiheit hat Folgen. Ihr Mann tut sich hart, sie zu verstehen. Sie vermisst ihre Familie, die ausgelassenen Feste, den Zusammenhalt. Der Sprung von einer in eine andere Kultur ist nicht einfach und was das für sie bedeutet, versteht kaum einer.

Gerade dieser Teil ist der eindrücklichste des Buches. Hier wird deutlich, dass niemand seine Herkunft einfach abstreifen kann wie ein altes Kleid. Fatma freut sich ihrer neuen Freiheit, will sie nicht missen und doch leidet sie unter dem harten Schnitt. Wer verstehen möchte, was es bedeutet, plötzlich alle alte Bindungen aufzugeben, sollte dieses Buch lesen.

Die harte Haltung der Familie, für die selbst moderne Türken völlig inakzeptabel sind, die auch in Deutschland eisern an alten Bräuchen festhalten, keine Brücken zu dem neuen Leben, der neuen Welt bauen können noch wollen, diese harte Haltung macht betroffen. Eine Kultur, die die Familie so hochschätzt, kennt keine Hemmung, jeden aus der Familie auszustoßen, der andere Werte, andere Gedanken hat.

In einem allerdings irrt das Buch. Das Leben in Ostanatolien gab es in Deutschland auch, nicht im Mittelalter, sondern noch vor hundert, hundertfünfzig Jahren. [[ASIN:3492240666 Die Schwabenkinder]] zeigt das und erst kürzlich wurde in der Schweiz bekannt, wie viele Waisen vom Jugendamt an Bauern verkauft wurden. Viele der Kinder erlebten ähnliches wie Fatma bei ihrem Onkel. Meine Mutter wurde in der Schule noch mit dem Lineal auf die Handfläche geprügelt, Erich Kästner erzählte von Lehrern, die die Gerte vor dem Unterricht in Wasser einlegten, damit es besonders weh tat. Und Heinrich Heine und Ferdinand Lassalle hielten es für richtig, sich um der "Ehre" willen zu töten - beide haben Duelle ausgefochten.

So ist das Buch auch eine Erinnerung daran, dass unsere Gesellschaft heute dem Einzelnen eine Wertschätzung zubilligt, die noch vor kurzem undenkbar gewesen war. Und es sind Menschen wie Fatma B., die mit ihrem Einsatz dafür sorgen und gesorgt haben, dass das so ist, dass wir uns heute vielleicht im Internet beschimpfen und die Worte um die Ohren hauen, aber nicht mehr mit Blut unsere vermeintliche "Ehre" verteidigen.

Individuelle Freiheiten sind ein verletztliches Gut und wir sollten das nie vergessen.

Allein deshalb schon ist dieses Buch wichtig. Außerdem ist es eine lebendige Biografie, die den Weg aus Ostantolien der Sechziger Jahre ins heutige Deutschland zeigt und wie schwierig dieser Weg oft ist.

Fazit: Unbedingt empfehlenswert

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