Fehlurteil. Krimi.
Sascha Berst, Gmeiner, Februar 2014
»Als ich ihn neben ihr stehen und auf sie einreden sah mit seinem schwarzen Hut, von dem der Regen tropfte, der dicken Jacke, deren schwarz-weißes Fischgräten-Muster zuletzt vor 20 Jahren modern gewesen sein mochte, den eindringlichen Gesten und einem Blick, der wie besessen schien, hielt ich ihn für einen Querulanten, wie man sie auf den Gängen der Gerichte, Behörden und Kanzleien immer wieder trifft. Männer meist, oft ungepflegt und ungewaschen, die davon überzeugt sind, dass ihnen bitterstes Unrecht geschehen ist, und nun, bewaffnet mit Stapeln von zerschlissenen Papieren, Unterlagen, Urteilen, ausgerissenen Zeitungsartikeln, Briefen, Bittschriften und Petitionen einen Richter oder einen Anwalt suchen, der ihnen helfen soll, ja, helfen muss, das vermeintliche Unrecht ungeschehen zu machen. Sie fordern Gerechtigkeit!, lautstark und unbedingt, und ahnen dabei nicht, dass das Wort allein schon den Juristen unangenehm berührt«
Ein alter Mann, ein Jude spricht die junge Staatanwältin Margarethe an. Er hatte versucht, das Haus seines Vaters zurück zu gewinnen, das dieser in der Nazizeit einem Deutschen für ein Spottgeld verkaufen musste. Doch ein Gericht hat diese Rückübereignung abgelehnt und nun hat er einen Strafantrag gestellt. Wegen Rechtsbeugung, gegen den Senat eines Oberlandesgerichts.
Rechtsbeugung! Klarer Fall von Querulantentum, so sieht es zunächst aus, so sieht es der junge italienischstämmige Staatsanwalt Tedeschi. Doch seine Kollegin Margarethe bemerkt Ungereimtheiten. Nicht nur die Akte ist verschwunden, auch die zugehörige Karteikarte. Und nach und nach tauchen weitere Merkwürdigkeiten auf. Der Vorsitzende des Senats ist allerdings ein mächtiger Mann im Ländle, war Abgeordneter und Justizminister. Keiner, der in der Justiz etwas werden will, legt sich mit so einem an. Das meint auch Margarethes Verlobter, der als Verteidiger Karriere machen will. Er ist nicht der einzige, der ihr Steine in den Weg legt.
Auch ihr Kollege Tedeschi rät ihr, die Sache einzustellen. Doch dann packt auch ihn dieser Fall und die beiden verfolgen diesen merkwürdigen Fall gemeinsam. Nicht ungefährlich, im Justizsystem sich mit der obersten Hierarchie anzulegen.
Der Schriftsteller und Rechtsanwalt Ellen Stanley Gardner hat vor etlichen Jahrzehnten amerikanische Gerichtsthriller geschrieben und gezeigt, welche Spannung man damit erzeugen kann. Herbert Rosendorfer, ebenfalls ein Jurist, hat in seinen Büchern immer wieder Justizfragen aufscheinen lassen. „Fehlurteil“ erinnert an die beiden Vorbilder. Sascha Berst ist Anwalt und jede Zeile seines Buches zeigt, dass er weiß, wovon er schreibt. Wir tauchen in die Freiburger Justiz ein, erleben Anwälte, Richter und Staatsanwälte, ihre Träume und ihren Berufsalltag, die Intrigen und die Arroganz der Macht.
Nicht zu vergessen: der kleine, dickliche Tedeschi, Sohn eines italienischen Gastarbeiters, der in Sindelfingen am Band schuftete. In der sehr deutschen Justiz der Neunziger Jahre eine ungewöhnliche Figur, die meisten Juristen stammen aus alteingesessenen Bürgerfamilien. Tedeschi, dieser schwäbelnde Deutsch-Italiener weiß nicht genau, wo er eigentlich zu Hause ist, und er ist auch nicht wirklich der Held der Geschichte. Er ist Dr. Watson neben Sherlock Margarethe. Aber Watson alias Tedeschi erzählt sie uns, erzählt über seine Kollegin, die er heimlich verehrt, über Männerbünde und Burschenschaften, über Freiburg und Skandale, über eine Frau, die sich so auf Männer versteht und sie für sich einspannen kann und doch wählt sie sich den falschen Freund aus.
Ein spannender Gerichtskrimi also. Aber es ist noch viel mehr. Da ist einmal die genaue Beschreibung, jeder Ort, jede Person steht lebendig vor dem Leser; da ist die Sprache, bei der jedes Wort genau gewählt wurde und passt; da ist der langsame, aber gekonnte Aufbau einer Spannung, die einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt. Obwohl: Soviel passiert dort gar nicht. Kein Blut, kein Serienkiller, keine Schießerei und doch ist es spannender als viele, viele Krimis voller Action. Dass wir dabei auch eine Zeitreise durch die Geschichte der deutschen Justiz machen, kommt noch hinzu. Krimi at his best und gleichzeitig gute Literatur.
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