Das demokratische Zeitalter. Politisches Sachbuch.
Jan-Werner Müller, Suhrkamp, 2013

Das demokratische Zeitalter

Jan-Werner Müller will die politischen Ideen und ihr Zusammenspiel mit den politischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts untersuchen. Keine reine Ideengeschichte also, sondern:

»Um ein solches Verständnis zu gewinnen, dürfen wir uns nicht mit den vorliegenden Darstellungen der Entwicklung bedeutender politischer Philosophen des europäischen 20. Jahrhunderts begnügen. Wir sollten uns vielmehr auf das konzentrieren, was sich zwischen dem mehr oder weniger akademischen politschen Denken auf der einen Seite und der Schaffung (und Zerstörung) politischer Institutionen auf der anderen Seite abspielt. Mit einem Wort: Wir müssen jene politischen Theorien erfassen, die politisch folgenreich waren.«

So beginnt er konsequenterweise mit dem klassischen Liberalismus der Epoche vor dem ersten Weltkrieg. Ein ungebrochener Fortschrittsglaube, der Staat in den Händen verantwortungsvoller Parlamentarier, die freilich nur von einem Teil der Gesellschaft gewählt wurden. Denn der Plebs würde, gäbe man ihm die Macht, die Gesellschaft zerstören. Das galt auch für die Frauen, denen die Fähigkeit zum Wählen, geschweige denn gar zum Regieren, rundweg abgesprochen wurde. Monarchien begründeten sich aus Gott und Aristokratie.

Diese Vorstellungen zerstörte der erste Weltkrieg. Den alten Eliten und dem Liberalismus der Vorkriegszeit war es nicht gelungen, den Krieg zu verhindern, geschweige denn, die Probleme der Gesellschaften zu lösen.

Auf diesem Hintergrund entstanden verschiedene politische Bewegungen samt Theorien, die den klassischen Liberalismus der Vorkriegszeit ersetzen wollten. Mussolinis Faschisten, die Nazis, die Kommunisten, klerikale Regime wie die von Franco und Salazar, Nationalstaaten, die ein einheitliches Volk mit einheitlichem Willen schaffen wollten. Sie alle benötigten Ideen, die sie legitimieren würden, aber auch die Ausgestaltung ihrer Politik prägten. Allen gemeinsam war, dass sie sich auf das Volk beriefen, dass sie, auch wenn sie nicht demokratisch waren, sich einen demokratischen Anschein geben wollten.

Zugleich waren die Staaten im Krieg immer mächtiger geworden. Dass das deutsche Reich Lenin als Vorbild für seinen Sozialismus diente, lag auch daran, dass sich dieses Reich während des Krieges zu einer riesigen Maschine, einer Bürokratie entwickelte, die eine Macht beanspruchte, die vor dem Krieg kein Staat innehatte. Das galt auch für die anderen Staaten im Krieg.

Müller untersucht die verschiedenen Ideen und Theorien, die zwischen den Weltkriegen aufkamen und die, die nach dem Krieg erst prägend für Westeuropa, später auch für Osteuropa wurden. Sein Buch liest sich gut, wenn er sich am Anfang bei Max Weber auch sehr in Details verliert, die vielleicht Wissenschaftler interessieren mögen, für Otto Normalleser aber weit hergeholt erscheinen. Doch das gibt sich bald, denn der Autor versteht es, in den folgenden Kapiteln verständlich und stringent seine Thesen zu entwickeln.

Und deren zentrale ist: Es ist kein Zufall, dass nach dem ersten Weltkrieg alle möglichen Ideologien Boden gewannen. Aber das zwanzigste Jahrhundert ist nicht das Jahrhundert der blutigen Ideologien, wie es oft dargestellt wird. Es ist auch ein Jahrhundert der Demokratien. Wie sie sich entwickelten, welche Strukturen und Ideen dafür prägend waren, kann das Buch spannend darstellen. Etwa die Bedeutung von Verfassungsgerichten, die nicht gewählt werden, aber einen ganz zentralen Baustein heutiger europäischer Staaten bilden.

Für die Nachkriegszeit legt er den Schwerpunkt auf die Christdemokraten. Das ist sicher richtig, denn Adenauer, de Gaspari, Schuhmann waren Christdemokraten. Und die Christdemokraten hatten ideengeschichtlich den weitesten Weg zurückzulegen. Der klassische Katholizismus, auch der politische, stand schließlich bis zum Ende des zweiten Weltkriegs der Demokratie sehr distanziert gegenüber. Es ist der Verdienst der christdemokratischen Parteien, dass das heute ganz anders ist und Müller schildert auch, welche Theoretiker und welche Ideen diesen Weg ebneten.

Interessant ist sein Kapitel über das, was als „68er“ berühmt wurde. Sehr richtig weist er darauf hin, dass die Hochzeit dieser Bewegung nicht 1968 stattfand, sondern in den Siebziger Jahren. Aber er tut sich schwer, eine prägende Theorie für diese Bewegung zu finden. Im Kapitel „Theorie? Nein danke!“ versucht er über Agnoli und Marcuse eine Theorie des Jugendprotestes zu finden, gibt dann aber zu, dass „Autonomie“ wohl der Kernbegriff dieser Bewegung war (und die Revolutionierung des Alltagslebens), sich aber eine einheitliche Theorie nicht finden lässt. Was natürlich einen ganz neuen Blick darstellt. Immerhin gab es wenige Bewegungen, die so verzweifelt versucht haben, eine politische Theorie für sich zu schaffen – und damit immer wieder aufs neue scheiterten.

Was in Müllers Buch völlig fehlt, ist die Sozialdemokratie. Stalinismus und Faschismus, Christdemokratie und klassichen Liberalismus schildert er. Doch die Sozialdemokratie lässt er fast völlig weg. Warum? Dass es die Christdemokraten waren, die nach dem Krieg zunächst die Macht innehatten, kann kein Grund sein, schließlich wurden diese durch die Konkurrenz mit Sozialdemokraten geprägt; viele politische Ideen der C-Parteien sind mehr oder minder gelungene Kopien sozialdemokratischer Ideen. Die „soziale Marktwirtschaft“ wäre ohne konkurrierende Sozialdemokraten (und kommunistischen Block) nie entstanden.

Doch sieht man von diesem blinden Fleck ab, ist das Buch ein ebenso lesenwertes wie lehrreiches Werk und ein Beispiel dafür, wie lebendig Wissenschaft sein kann – und wie unterhaltsam.

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