Alles Boulevard. Essays.
Mario Vargas Llosa, Suhrkamp, April 2013
Um es gleich zu sagen: Das Buch behandelt nur in dem ersten Abschnitt den Boulevard, die anderen Abschnitte kreisen um Aufgabe der Kultur, um die Grenzen der Freiheit, das Verschwinden der Erotik, das Verhältnis von Kultur, Politik und Macht und um die Religion. Das Buch ist eine Sammlung von Essays, die bis zu zwanzig Jahren alt sind.
Und Llosa gehört nicht zu denen, die in den beliebten Kanon "Untergang des Abendlandes" einstimmen, mit dem man heute viele Leser und viel Beifall finden kann - vor allem auf dem Boulevard.
Er stellt fest, dass es die Kultur, die es früher gab, heute nicht mehr gibt oder, genauer gesagt, dass sie sich gewandelt hat. Bis in die Sechziger Jahre gab es eine feste Vorstellung, was Kultur ist, was dazu gehört und was nicht. Ein Regelwerk, sehr starr, eine Kultur, die den (wenigen) Gymnasiasten eingebleut wurde. Demgegenüber herrscht heute die Beliebigkeit. "Die große Mehrheit des Menschengeschlechtes praktiziert und produziert heute keine andere Form von Kultur als jene, die früher von den gebildeten Kreisen nur abschätzig betrachtet wurde, als reine Freizeitbeschäftigung, ohne jede Verwandtschaft mit den geistigen, künstlerischen und literarischen Betätigungen, auf denen Kultur gründet."
Dazu muss man natürlich sagen, dass es diese Freizeitbeschäftigung schon immer gegeben hat. Im antiken Rom pilgerten Hunderttausende in den Circus, der ganz sicher kulturell nicht wertvoller war als "Deutschland sucht den Superstar". Allerdings kann man DSDS heute als Teilnehmer lebendig - wenn auch nicht immer unbeschadet - verlassen, was im antiken Circus Maximus keineswegs selbstverständlich war.
Und nicht alles aus dieser riesigen Freizeit- und Unterhaltungsbranche ist intellektuell minderwertig, Llosa weiß das im Gegensatz zu all den modischen "Untergang des Abendlandes"-Propheten. "Um nicht mißverstanden zu werden: Ich verurteile keineswegs die Autoren einer solchen unbeschwerten Unterhaltungsliteratur, denn es gibt unter ihnen echte Talente." Nicht zu vergessen, dass der alte Kulturbegriff, eben weil er feste Regeln setzte, so manches wertvolle ausschloß: Dashiell Hammett und Chandler hatten Krimis in Groschenheften veröffentlicht, Günther Grass Gossensprache verwendet, beides schloss sie für viele Vertreter des alten Kulturbegriffs von vorneherein aus der Kultur aus. Regeln setzen eben Grenzen und ebendiese Grenzen bewahren zwar einen einheitlichen Begriff dessen, was zur Kultur gehört und was ein gebildeter Mensch kennen sollte. Aber Grenzens grenzen eben auch aus, darunter so manches, was wert wäre, bewahrt zu werden.
Statt der festen Vorstellung, was Kultur ist und zu ihr gehört, gibt es heute das "Anything goes". Alles ist gleichwertig, denn wer sind wir, dass wir eine Hierarchie festlegen wollen? Heidi Klum und Nelson Mandela, Goethe und "Shades of Grey". Wir haben die alten Grenzen niedergerissen, Kampagnen gegen "Schmutz und Schund" keine Chancen mehr. Aber wir haben dafür etwas verloren: Maßstäbe, nach denen wir Prioritäten setzen. Und wir haben den Mut verloren, neues zu wagen.
"Aber wenn heute kaum noch jemand so gewagte literarische Abenteuer in Angriff nimmt, wie ein Joyce, eine Virginia Woolf, ein Rilke oder ein Borges dies taten, dann liegt das nicht allein an den Schriftsteller; es liegt auch daran, dass die Kultur, in der wir nun versinken, solch furchtlose Anstrengungen nicht nur nicht begünstigt, sondern behindert, Anstrengungen, die in Werken gipfeln, welche dem Leser eine fast so große geistige Konzentration abverlangen wie die, die sie ermöglicht hat. Heutige Leser wollen leichte Bücher, und die Nachfrage übt einen Druck aus, der für die Autoren zu einem machtvollen Kriterium wird."
Diesen Druck gab es allerdings auch schon früher, Joyce wurde schon zu Lebzeiten von den wenigsten gelesen (daran war auch die Zensur schuld). Ich habe starke Zweifel, dass Llosa mit seiner verklärten Nostalgie recht hat, die glaubt, dass früher mehr Leser bereit waren sich auf Experimente wie "Ulysseus" einzulassen. Bleibt natürlich die Frage, warum Bücher heute zwar geschätzt werden wie nie zuvor (jede Kleinstadt hat heute ihre Literaturtage, ihre Literaturpreise), aber die Schriftsteller sowenig Bedeutung haben und sowenig Risiken eingehen? Vielleicht, weil es keine Grenzen mehr gibt, gegen die sie anlaufen können? Flaubert wurde wegen Madame Bovary noch vor Gericht gezerrt, "Fifty Shades of Gray" laufen nur Gefahr, dass man sich darüber mokiert.
Vielleicht spielt aber auch etwas anderes eine Rolle: "Ein Grund ist gewiss, dass sich gleich mehrere Generationen von Intellektuellen mit ihren Sympathien für die Totalitarismen, ob Nationalsozialismus, Sowjetkommunismus oder Maoismus, in Verruf gebracht haben, mit ihrem Schweigen und ihrer Blindheit angesichts der Schrecken des Holocausts, der Gulags und der blutigen Kulturrevolution." Leider verfolgt Llosa diesen Gedanken nicht weiter, ich halte ihn für eminent wichtig. Die großen Debatten, Glaubenskämpfe haben große Gedanken hervorgebracht. Aber auch jede Menge blutiger Irrtümer. Weder das eine noch das andere kann einem mit "Fifty Shades of Gray" passieren.
Das zweite große Thema des Buches ist die Religion. Llosa ist ein Kind der Aufklärung, er sieht die Gefahren, wenn Religionen sich des Staates bemächtigen. Aber er sieht auch, dass Religionen vielen Menschen Halt geben, dass der Bedeutungsverlust der klassischen Religionen eine Vielzahl von Sekten hervorgebracht haben, die die religiösen Bedürfnisse auf ihre Art zu erfüllen trachten. Auch hier konstantiert er den Verlust der klassischen festgefügten Werte, ein Verlust, der mehr Freiheit brachte, aber eben auch ein Verlust war. Allein diese Abhandlung über Gefahren und Notwendigkeit der Religion ist es wert, gelesen zu werden.
"In keiner der heutigen Demokratien streben die jüngeren Generationen danach, dem Staat mit jener Begeisterung zu dienen, mit der sich noch vor wenigen Jahrzehnten die idealistische Jugend in der dritten Welt der revolutionären Aktion verschrieb. Diese Hingabe führte in den Sechziger und siebziger Jahren Hunderte von Jungen Leuten in den Dschungel und die Berge fast ganz Lateinamerikas, Menschen, die in der sozialistischen Revolution ein Ideal sahen, das es wert war, dafür ihr Leben zu geben." Hier spricht Llosa an, was zunehmend ein Problem moderner Demokratien wird. Obwohl sie viel mehr Freiheiten gewähren, als die Glaubensdiktaturen aller Couleur, tun sie sich hart, Menschen wirklich in Bann zu schlagen. Wer will schon in die Politik gehen, wenn Politiker mieses Ansehen genießen, sehr viel schlechter als in der Wirtschaft bezahlt werden und jederzeit Gefahr laufen, wegen eines Nebensatzes, den sie irgendwo geäußert haben, ein Shitstorm auszulösen. Dazu kommt eine Presse, die ohne große Risiken einzugehen, Telefone abhören und das Privatleben von Politikern ausspähen darf. In der Politik hat das Primat der Unterhaltung vor der inhaltlichen Auseinandersetzung schwerwiegende Folgen.
Der schwächste Teil des Buches ist der über Erotik. Vargas Llosa ist kein Anhänger der katholischen Morallehre, schon gar nicht im Bereich Sexualität. Dennoch ist er von ihr geprägt. "Bei wohl keiner anderen Betätigung hat man zwischen Tierischem und Menschlichem eine so klare Grenze gezogen wie beim Sex", "zurück in die Steinzeit, als die Paare, wie die Affen und die Hunde, noch nicht gelernt hatten, miteinander zu schlafen, sondern nur zu kopulieren" sind zwei Beispiele dafür. Dass diese Auffassung der strikten Trennung von Tieren, die "nur kopulieren" und den Menschen, bei denen Sex noch eine andere Bedeutung hat, dass diese Auffassung von der Verhaltensforschung schon vor über vierzig Jahren widerlegt wurde, ist ihm entgangen. So enthält der Abschnitt über den Verlust der Erotik zwar einige richtige Beobachtungen, aber schwimmt weit weg von den Realitäten.
Auch an anderen Stellen merkt man, das einige der Artikel schon ziemlich alt sind, etwas bei: "HEute erleben wir das Primat der BIlder über die Ideen" Das stammt wohl noch aus den Vorinterzeiten, als nur das Fernsehen die Öffentlichkeit prägte. Gegen INternet-Shitstorms lässt sich eine Menge sagen, aber sie werden mit Worten geführt. Und soviele Katzenbilder sich auch bei Facebook finden, es ist immer noch ein Medium des Wortes. Was zeigt, wie schnell sich heutzutage die gesellschaftlichen Bedingungen ändern können.
Nichtsdestotrotz bietet das Buch gut geschriebene Essays, die zu lesen sich nicht nur lohnt, sondern auch Spaß macht. Langeweile ist Llosas Ziel nicht, allem Kulturpessimismus zum Trotz.
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