Die Gruppe 47 - als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Sachbuch.
Helmut Böttiger, DVA, November 2012

Längst ist die Gruppe 47, geführt von Hans Werner Richter, zum Mythos geworden. Verehrt von den einen, die davon schwärmen, dass damals Literatur noch etwas gegolten habe, verdammt von den anderen, die darin eine Reichschrifttumskammer sehen und eine Hinrichtungsinstitution, die absolute Macht über den Literaturmarkt gehabt hätte.

Helmut Böttiger hat jetzt ein Buch über diese Gruppe, ihre Entstehung und ihre Geschichte vorgelegt.

Hans Werner Richter kam nach dem Krieg aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück. Dort hatte er erstmals mit der literarischen Moderne Kontakt. Deutschland war zwölf Jahre abgeschnitten von allen literarischen Entwicklungen in der Welt, obendrein hatten die meisten Schriftsteller fliehen müssen.
 
In Deutschland gaben weiterhin die den Ton an, die schon zu Nazizeiten hochverehrt wurden. Man distanzierte sich zwar ein wenig von den "pöbelhaften" Nazis, aber mythisierte fröhlich weiter, wenn auch nicht direkt mit Blut und Boden. Religiöse Schwärmerei, überhaupt das Schwärmerische war sehr beliebt, mit den Realitäten wollte man sich lieber nicht befassen. "Ich habe gesagt, der innerste Sinn aller Kunst [...] mache sie zu einer Trösterin über die Vergänglichkeit des Daseins" proklamierte Rudolf Alexander Schröder 1947.
 
Richter und eine ganze Reihe anderer wollten weg davon. Sie wollten das Leben nicht verklären, sondern die Trümmer in Deutschland wahrnehmen. Was ihm aber bei einer Tagung der "Mystiker" gefallen hatte: "So was sollte man öfter machen. Manuskripte vorlesen, diskutieren - da kommt was dabei raus." So entstand die Gruppe 47. Zur ersten Tagung kamen weniger als zwanzig Teilnehmer. Keiner davon war berühmt.
 
Die Gruppe 47 war der einzige Ort, an dem neue Autoren sich von dem Mystizieren der Gegenwart und Vergangenheit absetzen konnten, das damals allgemeine Mode war und vor allem von Friedrich Sieburg und der FAZ apodiktisch vertreten wurde. Sieburg warf Ende der Fünfziger Jahre Walser gar vor, dass früher noch Anstand und Sitte gegolten habe und Walser das verlasse. Wenn man bedenkt, dass "früher" Nazis und Drittes Reich waren und Sieburg dort ein hohes Amt innehatte, eine ziemliche Unverfrorenheit.

Wer glaubt, dass Shit-Storms eine Erfindung des Internetzeitalters seien, der irrt. Als Thomas Mann 1949 den Goethepreis bekam, überschwemmten die Protestbriefe das Rathaus und selbst der hessische Kultusminister sagte sein Kommen ab. Mit einem »labilen«, »goethefremden« Dichter wollte man nichts zu tun haben. Andere distanzierten sich gleich vom »Juden Mann«. Als der Norddeutsche Rundfunk ein Hörspiel von Günter Eich brachte, brach ein ähnlicher Shitstorm los - obwohl es das Wort damals noch gar nicht gab.  »Sagen Sie mal, was verzapfen Sie heute wieder fürn Mist im Rundfunk? Es ist zum Kotzen«. Trolle gab es schon lange vor dem Internet und die Rüpelrepublik ist kein neues Phänomen. Als die FAZ es 1957 wagte, ein Gedicht von Eich zu drucken, musste sie eine ganze Seite freiräumen für die Leserbriefe im Stil: »In jüngeren Jahren hatte ich für die Entmündigung und Einweisung Geistesgestörter in Irrenanstalten zu sorgen. Der Herr Eich gehört meines Erachtens zweifelsohne dorthin!«

Die Gruppe 47 wurde so zu einem Fluchtpunkt all derer, die nicht in das wabernd-nebulöse Mythisieren einstimmen wollten. Es war der Einzige. Helmut Böttiger zeigt in seinem Buch sehr gut die gesellschaftlichen Umstände, die die Gruppe bestimmten. Auch Literatur lebt nicht im luftleeren Raum, sondern wächst aus der Gesellschaft, in der sie geschrieben wird.

Eine einheitliche literarische Vorstellung hatte die Gruppe nicht. Richter war ein Vertreter des Realismus, doch er versuchte nie, diese Vorstellung in der Gruppe durchzusetzen. Schon am Anfang gab es Surrealisten, bald folgen die »Formalisten«, die Richter zwar nicht liebte, aber duldete.

Anders als heute oft tradiert wird, war Politik ganz und gar verpönt in der Gruppe. Zwar waren die meisten Teilnehmer Gegner des Adenauerstaats und traten oft auch gegen ihn an - in den Gruppentreffen musste man sich aber auf literarische Diskussionen beschränken.

Da die Gruppe 47 der einzige Ort war, an dem sich neue Autoren vorstellen konnten, wurde sie bald zur Avantgarde. Mit Günter Eich, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Alfred Andersch und anderen versammelten sich die, die später in die Literaturgeschichte eingehen sollten. Ingeborg Bachmann schaffte es als Fräuleinwunder 1954 auf das Titelblatt des Spiegels. 1958 las Günther Grass aus der Blechtrommel und wurde damit schlagartig berühmt. Zwar gab es nochmal zahlreiche Versuche, diesen »Schmutz und Schund« zu unterbinden, doch die Zeit ging zu Ende. Die Gruppe 47, als kleine Gruppe literarischer Außenseiter gegründet, entwickelte sich langsam zum literarischen Mainstream. Als das literarische Colloquium, entstanden aus dem Umfeld der Gruppe, in West-Berlin Lesungen organisierte, kamen zu Ingeborg Bachmanns Lesung über zweitausend Zuhörer, später mussten die Veranstalter gar die Polizei rufen, weil sie den Andrang nicht mehr bewältigen konnten. In den heutigen Zeiten, in denen jede Kleinstadt Literaturtage veranstaltet, ist es kaum mehr vorstellbar, welche Bedeutung die Gruppe 47 gewonnen hatten.

Als Mitte der Sechziger die Studentenrevolte begann, rechneten sie viele bereits zum Establishment.

Mit der Entwicklung änderten sich auch die jährlichen Gruppentagungen. Anfänglich waren die Gruppentagungen Werkstattgespräche zwischen Autoren. Was heute tausendfach in Internetforen, Literaturhäusern und VHS-Treffen passiert, war damals revolutionär neu. Kritik und Diskussion, das war weder im Führerstaat noch im wilhelminischen Deutschland angesehen, das war ein anglo-amerikanischer Import.

Doch spätestens nach der Tagung 1958 mit der Lesung der »Blechtrommel« interessierten sich die Zeitungen, das Fernsehen und die Verlage für die Gruppe. Vorlesenden Autoren übten sich in Selbstdarstellung, der Autor als Ich-Marke entstand. Das machte Werkstattgespräche unmöglich. Die Tagungen wurden von Journalisten belagert, wer dort reüssierte, dessen Zukunft war gesichert. Immer wieder versuchte Hans Werner Richter und auch Günther Grass die Tagung zurück zum Werkstattstattgespräch unter Autoren zu führen, vergeblich. Junge literarische Wilde straft das Leben damit, dass sie im Alter Mainstream werden.

Böttiger zeigt, wie sich das in den Sechzigern erstmalig entwickelte, Peter Handke und Hans Magnus Enzensberger waren die Ersten, die das begriffen und konsequent umsetzten. Heute verlangt jeder Verlag von seinen Autoren, dass sie in Facebook, Twitter und im Internet ihre Selbstdarstellung betreiben. Was einst einige literarische Autoren begannen, ist heute auch für Genreautoren Pflicht geworden.

So manches aus der Gruppe 47 hat sich später verselbstständig. Etwa die Behauptung, dass »wertvolle Literatur« immer realistisch sein solle; dass Eskapismus etwas Schlechtes sei.
Diese eindeutige Festlegung der Gruppe gab es aber gar nicht und die Realisten, die es in der Gruppe gab, wollten sich damit zum Wabern und Weben der Nach-Nazi-Literatur abgrenzen. Interessant, wie sich Meinungen und Theorien verselbstständigen und später zum Dogma werden. Und auf Dinge ausgedehnt werden - in dem Fall auf Fantasy etc. - die damit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.

Böttigers schreibt stilsicher und flüchtet sich nicht in literarische Verquastheit. Sein Buch lässt die Autoren der Gruppe 47 lebendig werden und wie sich die literarische Szene in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik entwickelte. Vieles, das wir heute im Literaturbetrieb kennen und für selbstverständlich halten, wurde damals angelegt. So ist das Buch ein Muss für jeden, der schreibt, egal ob literarisch oder Genre, und auch für jeden, der sich für Literatur und Bücher interessiert.

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